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Psychiatrie und Strafjustiz

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Kranken in massgeblicher Weise beeinflussen. Die Stimmung entbehrt daher jenes inneren Gleichge-<br />

wichts, wie es durch die Ausbildung der höheren Gefühle begründet wird; die Gemütlosigkeit des Kran-<br />

ken wird gelegentlich durch Affektausbrüche von brutaler Heftigkeit durchbrochen.» 948 Kraepelin postu-<br />

lierte damit, dass die ethischen <strong>und</strong> ästhetischen Gefühle in enger Verbindung zu den intellektuellen Fä-<br />

higkeiten standen. Blieben diese Gefühle aufgr<strong>und</strong> einer mangelhaften Ausbildung des Intellekts unter-<br />

entwickelt, so wurden die Betreffenden gewissermassen zum Spielball ihrer «niedrigen Regungen» <strong>und</strong><br />

entbehrten jeglichen «inneren Gleichgewichts». Noch prägnanter kam der Fokus auf die affektiven <strong>und</strong><br />

voluntativen Funktionen bei den letzten beiden Formen von «Schwachsinn» zum Ausdruck. Beim «moralischen<br />

Schwachsinn» handelte es sich nach Kraepelin vorwiegend um eine «Störung im Bereich des Ge-<br />

müts», welche es verunmöglichte, dass die «rücksichtslose Befriedigung der «egoistischen Neigungen»<br />

durch «Gegenmotive» zurückgehalten wurde. Der «impulsive Schwachsinn» bestand dagegen in einer «ge-<br />

ringen Widerstandskraft gegenüber plötzlich aufsteigenden Antrieben». In beiden Fällen waren intellektu-<br />

elle Defizite nur mehr von sek<strong>und</strong>ärer Bedeutung oder konnten gar ganz fehlen. 949 In den folgenden Auf-<br />

lagen seines Lehrbuchs schränkte Kraepelin die Definition des «Schwachsinns» allerdings wieder zuneh-<br />

mend ein. Wie in Kapitel 3.1 erwähnt worden ist, rangierte der «moralische» <strong>und</strong> «impulsive Schwachsinn»<br />

nun unter den «psychopathischen Zuständen», respektive den «originären Krankheitszuständen».<br />

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass solche konzeptuelle Differenzierungen auf der Lehr-<br />

buchebene nur bedingt in der forensisch-psychiatrischen Praxis Niederschlag fanden. Ergebnisse der klini-<br />

schen Forschung hatten für die Forensik lediglich insofern Bedeutung, als sich daraus Konsequenzen für<br />

die Beurteilung von Rechtsfragen ergaben. So hat Martin Lengwiler jüngst darauf hingewiesen, dass<br />

«Schwachsinnige» <strong>und</strong> «Psychopathen», die in Kraepelins Nosologie säuberlich separiert waren, von Ge-<br />

richtspsychiatern <strong>und</strong> Juristen häufig unter dem Begriff der «Grenzzustände» zusammengefasst wurden. 950<br />

Auch Glaser fasste 1911 unter dem Begriff der «Übergangszuständen» sowohl «moralische Idioten» <strong>und</strong><br />

«psychopathische Persönlichkeiten», als auch «Schwachsinnige» <strong>und</strong> sogar periodisch Geisteskranke zu-<br />

sammen. 951 Bezugspunkt solcher «Grenzzustände» waren somit weniger die psychiatrisch-klinischen<br />

Krankheitsentitäten als der rechtlich-administrative Status, den diese Zustände implizierten. Unter<br />

«Grenzzuständen» wurden psychische Störungen verstanden, deren strafrechtliche Beurteilung schwan-<br />

kend blieb. In systemtheoretischer Perspektive lassen sich solche Sammelbegriffe als Komplexitätsreduktionen<br />

innerhalb des medizinischen Felds verstehen, die im Hinblick auf eine transformative Systembezie-<br />

hung zum juristischen Bezugssystem vorgenommen wurden. Ein wesentliches Charakteristikum solcher<br />

«Grenz-» oder «Übergangszustände» bestand darin, dass sie primär angeborene Störungen der Affekte <strong>und</strong><br />

Triebe umfassten, denen die <strong>Psychiatrie</strong> kein eigentlicher Krankheitswert zubilligte, wie es bei «einfachen<br />

Geistesstörungen» oder hochgradigen Intelligenzminderungen der Fall war. Am deutlichsten zum Aus-<br />

druck kam dieser Fokus auf die affektiven <strong>und</strong> voluntativen Funktionen im Fall des Psychopathiekon-<br />

zepts, dessen Aneignung in der forensisch-psychiatrischen Praxis im nächsten Unterkapitel untersucht<br />

wird. Was den «Schwachsinn» anbelangte, hatte das Aufgehen verschiedener klinisch-diagnostischer Kate-<br />

gorien im Sammelbegriff der «Grenzzustände» zu Folge, dass in der forensisch-psychiatrischen Praxis<br />

zunehmend auch «Schwachsinn» mit «moralischer Schwäche» oder «Haltlosigkeit» assoziiert wurde. So<br />

thematisierten auch die Berner Psychiater bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit von «Schwachsin-<br />

nigen» nicht nur die Frage der Strafeinsicht, sondern auch das Fehlen der Willensfreiheit. Die sich aus<br />

948 Kraepelin, 1887, 519f.<br />

949 Kraepelin, 1887, 523, 525.<br />

950 Lengwiler, 2000, 113f.<br />

951 Glaser, 1911, 8-13.<br />

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