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Psychiatrie und Strafjustiz

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Koppelung der beiden Bezugssysteme stattfinden kann, werden einerseits durch normative <strong>und</strong> kognitive<br />

Regelkomplexe in Form gesetzlicher Vorschriften sowie juristischer <strong>und</strong> medizinischer Deutungsmuster<br />

konditioniert, die sich zu komplexen Dispositiven verketten können. 31 Diese Koppelungsbedingungen stellen<br />

Regelkomplexe dar, auf welche die «AkteurInnen» im Handlungs- oder Kommunikationsfluss kontinuier-<br />

lich zurückgreifen können, die jedoch auch Raum für situative Aneignungen <strong>und</strong> Variationen zulassen. 32<br />

Andererseits kondensiert sich der Umgang der «AkteurInnen» mit solchen Regelkomplexen in Form re-<br />

konstruierbarer Handlungsmuster. 33 Regelmässigkeiten lassen sich ebenfalls bezüglich der (ungleichen) Ver-<br />

teilung materieller <strong>und</strong> symbolischer Ressourcen auf die beteiligten «AkteurInnen» feststellen. Schliesslich ist davon<br />

auszugehen, dass die in der Praxis generierten Handlungsmuster Rückkoppelungseffekte auf das Operie-<br />

ren der «AkteurInnen» aufweisen. «AkteurInnen» sehen sich dabei mit den Folgen ihrer Handlungen kon-<br />

frontiert, die eine Eigendynamik entwickeln können, welche sich einer intentionalen Beeinflussung ent-<br />

zieht. 34<br />

Aus der Perspektive des Justizsystems kommt dem Psychiater, der den Geisteszustand eines Angeschul-<br />

digten zu beurteilen hat, die Rolle eines Sachverständigen zu, der das Justizsystem mit sozialem Sinn in Form<br />

spezifischen Fachwissens versorgt. Seitens der Sozial- <strong>und</strong> Wissenschaftsgeschichte ist in den letzten Jah-<br />

ren wiederholt auf die Bedeutung aufmerksam gemacht worden, welche der Ausdifferenzierung solcher<br />

Expertenrolle bei der Konstituierung von Wissensfeldern zukommt. Brian Wynne hat beispielsweise dar-<br />

auf hingewiesen, dass eine traditionelle Sicht, die streng zwischen Faktenerhebungen durch Sachverständi-<br />

ge <strong>und</strong> der rechtlichen Würdigung dieses Wissens (fact-value-distinction) unterscheidet, den komplexen Be-<br />

ziehungen zwischen Rechts- <strong>und</strong> Wissenschaftssystem kaum gerecht wird. Expertenwissen zeichnet sich<br />

vielmehr dadurch aus, dass es Erwartungshaltungen seiner Auftraggeber bezüglich seines Inhalts <strong>und</strong> sei-<br />

ner Form gleichsam antizipiert. Diese Antizipation ist allerdings nur unzureichend als Popularisierung zu<br />

charakterisieren, sie widerspiegelt vielmehr spezifische Formen der Wissenstransformation im Kontext der<br />

strukturellen Koppelung zweier Bezugssysteme. 35 An die Überlegungen von Wynne anknüpfend, stellt<br />

Luhmann fest, «dass Expertenwissen im Prozess seiner Verwendung in juristischen oder politisch-<br />

administrativen Entscheidungsverfahren wesentliche Momente seiner Wissenschaftlichkeit aufgibt <strong>und</strong> so<br />

zubereitet wird, dass es im Entscheidungsprozess unter Zeitdruck <strong>und</strong> Vereinfachungsnotwendigkeiten zu<br />

Ergebnissen führen kann. [...] Es wird, anders gesagt, in die vom Recht vorgesehen Form gebracht.» 36 In<br />

einer solchen Perspektive erscheint die forensische <strong>Psychiatrie</strong> als Wissensfeld, für dessen Entstehung der<br />

Bezug zur Rechtspraxis konstitutiv ist. Von einer «Verwissenschaftlichung des Sozialen» (Lutz Raphael)<br />

lässt sich dabei insofern sprechen, als die <strong>Strafjustiz</strong> vom regelmässigen Beizug psychiatrischer Sachver-<br />

ständiger Lösungen für anstehende Rechtsfragen erwartet. Die Stabilisierung dieser Erwartungshaltung in<br />

der Justizpraxis führt letztlich zur «dauerhaften Präsenz humanwissenschaftlicher Experten» im Rechts-<br />

<strong>und</strong> andern Subsystemen. 37<br />

Solche Ansätze, die im weitesten Sinne in der Tradition der Systemtheorie stehen, gehen häufig davon aus,<br />

dass strukturelle Koppelungen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen transformativen System- <strong>und</strong> Wissensbezie-<br />

hungen in einem engen Zusammenhang mit konkreten Problemlagen innerhalb des Rechtssystems stehen.<br />

Der Beizug von Sachverständigen richtet sich demnach nach rechtlichen Konditionalprogrammen, welche<br />

31 Reckwitz, 1997, 121-135.<br />

32 Reckwitz, 1997, 142f.<br />

33 Reckwitz, 1997, 160.<br />

34 Reckwitz, 1997, 153-167.<br />

35 Wynne, 1989. Zum Popularisierungsmodells: Daum, 1998; Cooter/Pumfrey, 1994; Shinn/Whitley, 1985; Whitley, 1985.<br />

36 Luhmann, 1993, 91.<br />

37 Raphael, 1996, 166; Busset/Schumacher, 2001.<br />

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