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Psychiatrie und Strafjustiz

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Rudolf W., bei dem die Psychiater eine «moralische Haltlosigkeit» <strong>und</strong> «sexuelle Perversionen» festgestellt<br />

<strong>und</strong> seine Zurechnungsfähigkeit als vermindert bezeichnet hatten. Vor Gericht legte Hans Rudolf W. ein<br />

«Geständnis» ab, das allerdings weniger die eingeklagten Diebstähle <strong>und</strong> Unterschlagungen als seine sexu-<br />

elle Orientierung zum Gegenstand hatte. Hans Rudolf W. bekannte sich vor dem Gericht zu einem «sehr<br />

starken Trieb zur Päderastie» <strong>und</strong> betonte seine Unfähigkeit, mit seinen «Neigungen» fertig zu werden:<br />

«Sowohl gegen meine Neigung zu jungen Knaben wie gegen die Onanie versuchte ich dauernd anzukämp-<br />

fen, aber stets ohne Erfolg <strong>und</strong> ich habe die feste Überzeugung, dass ich auch in Zukunft ohne strenge<br />

Aufsicht meine sexuellen Triebe nicht bemeistern kann.» Möglicherweise auf Anraten seines Verteidigers<br />

versuchte er sich als Opfer seiner «Triebe» darzustellen, um dadurch einer Strafe zu entgehen. Mit dem<br />

Wunsch nach einer «strengen Aufsicht» bek<strong>und</strong>ete er dem Gericht seine Bereitschaft, sich einer erziehen-<br />

den Massnahme zu unterziehen. Sein «Geständnis», das das Vokabular der Psychopathia sexualis <strong>und</strong> die<br />

Argumentation des Gutachtens aufnahm, bezweckte wohl in erster Linie einen Verzicht auf die Strafe<br />

zugunsten einer Massnahme. Aufgr<strong>und</strong> der Quellen nicht schlüssig zu entscheiden ist, inwiefern diese<br />

Aneignung des psychiatrischen Sexualitätsdiskurses über eine Selbstentlastung hinaus auch Elemente einer<br />

Selbstidentifikation enthielt, wie sie Harry Oosterhuis bei vielen homosexuellen Patienten Krafft-Ebings<br />

festgestellt hat. 1090<br />

Die Geschworenen kamen der Verteidigungsstrategie von Hans Rudolf W. insofern nach, als sie die Zu-<br />

rechnungsfähigkeit entgegen dem Gutachten vollständig verneinten. Die Kriminalkammer ihrerseits er-<br />

achtete die Verhängung sichernder Massnahmen «nicht nur im Interesse des Angeklagten selber, sondern<br />

auch im Interesse der öffentlichen Sicherheit als geboten». Auch sie rekurrierte schliesslich auf das psychi-<br />

atrische Modell der «verminderten Widerstandskraft», um die mangelnde strafrechtliche Verantwortlich-<br />

keit zu begründen: «In dem immer wiederkehrenden Kampfe zwischen den vorhandenen guten Gr<strong>und</strong>sät-<br />

zen <strong>und</strong> den Versuchungen, in die ihn seine moralische Schwäche <strong>und</strong> seine sexuellen Trieb führten,<br />

mussten erstere immer wieder unterliegen. [...] Der aus seiner Naturanlagen resultierende Trieb beherrscht<br />

ihn dabei in dem Masse, dass trotz Einsicht in die Strafbarkeit seiner Handlungen, der vorhandene<br />

(schwache) Wille, dieser Einsicht gemäss zu handeln, nicht aufkommen konnte.» 1091 Der Fall von Hans<br />

Rudolf W. verdeutlicht beispielhaft, wie die Justizbehörden <strong>und</strong> sogar die Angeklagten selbst psychiatri-<br />

sche Deutungsmuster sich aneignen <strong>und</strong> gezielt für ihre Zwecke nutzen konnten. Es ist zudem bezeichnend,<br />

dass diese Aneignung in engem Zusammenhang mit der Verhängung einer sichernden <strong>und</strong> thera-<br />

peutischen Massnahme stand. Wie in Kapitel 8 noch ausführlich zu zeigen sein wird, zeigt sich an diesem<br />

Fallbeispiel, dass die Berner Justizbehörden entgegen der Polemik von Speyrs sehr wohl ein offenes Ohr<br />

gegenüber der Möglichkeit hatten, die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zu vereinen, um damit eine si-<br />

chernden oder erziehende Massnahme beantragen zu können.<br />

Eine gezielte Nutzung psychiatrischer Deutungsangebote durch die Verteidigung lässt sich auch im Fall<br />

des Brandstifters Jakob M. feststellen. Hier gelang es dem Verteidiger, unter Berufung auf das psychiatri-<br />

sche Gutachten <strong>und</strong> entgegen dem Antrag des Staatsanwalts die Annahme einer verminderten Zurech-<br />

nungsfähigkeit <strong>und</strong> damit eine deutliche Milderung der Strafe durchzusetzen. 1092 Bei Christian B., dessen<br />

Fall ausführlich in Kapitel 7.52 dargestellt worden ist, versuchte der Verteidiger dagegen vergebens, das<br />

auf verminderte Zurechnungsfähigkeit lautende Gutachten auf eine vollständige Schuldunfähigkeit zu<br />

überdehnen. Die Kriminalkammer begründete den Geschworenenspruch damit, dass eine hohe Vermin-<br />

1090 Oosterhuis, 2001.<br />

1091 StAB BB 15.4, Band 94, Verhandlung der Assisen gegen Hans Rudolf W., 18. Mai 1903.<br />

1092 StAB BB 15.4, Band 104, Verhandlung der Assisen gegen Jakob M., 6. März 1908.<br />

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