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Psychiatrie und Strafjustiz

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Jarcke in einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens noch primär eine Gefahr für das geltende Schuld-<br />

strafrecht gesehen, so griffen Juristen wie Enrico Ferri oder Franz von Liszt seit den 1870er Jahren be-<br />

reitwillig auf neue psychiatrische Deutungsmuster, Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte zurück, um<br />

dadurch der viel beklagten Ineffizienz der bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong> gegenüber steigenden Kriminalitätsraten<br />

<strong>und</strong> Rückfallsquoten wirksam zu begegnen. Die Strafrechtsreformer versprachen sich von der (teilweisen)<br />

Preisgabe des Prinzips der individuellen Verantwortlichkeit <strong>und</strong> der Schaffung neuer institutioneller<br />

Zugriffe auf «unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher», «minderwertige» DelinquentInnen oder «gemein-<br />

gefährliche» Geisteskranke zukunftsträchtige Optionen, um die Sicherheitsbedürfnisse der modernen<br />

(Klassen-)Gesellschaft zu befriedigen. Die von der Strafrechtsreformbewegung konzipierte Kriminalpoli-<br />

tik einer «sozialen Verteidigung» richtete sich zu einem guten Teil gegen jene Gruppe von DelinquentIn-<br />

nen, die von der zeitgenössischen <strong>Psychiatrie</strong> als «psychopathische Persönlichkeiten» bezeichnet wurden.<br />

Ziel war die Entwicklung eines Systems sichernder Massnahmen, das einen effizienten Schutz der Gesell-<br />

schaft vor «gefährlichen Individuen» bot, denen psychiatrische Sachverständige aufgr<strong>und</strong> einer als unver-<br />

änderlich angesehenen «minderwertigen Konstitution» die Fähigkeit zur Integration in die bürgerliche<br />

Gesellschaft absprachen. Die Strafrechtsreformer waren sich einig, dass die Umgestaltung des Schuldstraf-<br />

rechts von einer Ausweitung der psychiatrischen Definitionsmacht begleitet sein würde. Mit dem Be-<br />

kenntnis zu einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung verb<strong>und</strong>en war das Konzipieren neuer Modelle<br />

der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>. Nach dem Willen der Refor-<br />

mer sollte sich die strukturelle Koppelung der beiden Bezugssysteme künftig nicht mehr auf die Beurtei-<br />

lung der Schuldfähigkeit beschränken, sondern sich auch auf den Bereich der Sanktionsbemessung <strong>und</strong><br />

den Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzug erstrecken. Dies bedeutete eine deutliche Modifikation der dis-<br />

ziplinären Grenzziehung, wie sie sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts herausgebildet hatte.<br />

Strafrechtliche Lernprozesse beschäftigten seit den 1890er Jahre nicht nur die in der IKV organisierten<br />

Strafrechtsreformer, sondern bestimmten auch die Kriminalpolitik vieler europäischer Staaten. In<br />

Deutschland führte die vom Reichsjustizministerium eingeleitete Strafrechtsreform noch vor dem Ersten<br />

Weltkrieg zu verschiedenen Vorentwürfen. Reformen des materiellen Strafrechts verzögerten sich dann<br />

allerdings bis in die 1930er Jahre, als das nationalsozialistische Regime die Frage der Strafrechtsreform<br />

unter veränderten Vorzeichen aufgriff <strong>und</strong> zu einem Abschluss führte. 341 In Italien legte eine von Ferri<br />

präsidierte Reformkommission 1921 einen Vorentwurf vor, der zwar die von den Kriminalanthropologen<br />

ausgegangenen Forderungen kodifizierte, jedoch von den faschistischen Machthabern nie verwirklicht<br />

wurde. 342 Reformprozesse lassen sich auch in England <strong>und</strong> Norwegen feststellen. 343 Wie im folgenden<br />

Kapitel gezeigt werden soll, führten die die strafrechtlichen Lernprozesse auch in der Schweiz zu einer bis<br />

in die 1930er Jahren anhaltenden Diskussion über die Ausgestaltung der staatlichen Kriminalpolitik. In<br />

allen Ländern sahen sich die Strafrechtsreformer gezwungen, beim Einbringen ihrer Reformforderungen<br />

in politische Prozesse Kompromisse mit ihren Gegnern einzugehen. Im europäischen Kontext erwies sich<br />

denn auch die vollständige Preisgabe des Axioms der individuellen Verantwortlichkeit politisch als kaum<br />

realisierbar. Die meisten nationalen Strafrechtsreformen begnügten sich schliesslich mit einer Integration<br />

sichernder Massnahmen in das bestehende Schuldstrafrecht.<br />

341 Vgl. Schmidt, 1995, 394-399, 405-408, 430-432.<br />

342 Vgl. Hering, 1966, 74.<br />

343 Das norwegische StGB von 1902 sah sichernde Massnamen gegen «verbrecherische Geisteskranke» vor. In England schuf der<br />

Prevention of Crime Act von 1908 die Gr<strong>und</strong>lagen für eine unbestimmte Verwahrung rückfälliger DelinquentInnen vgl. Wiener,<br />

1990, 349; Garland, 1985.<br />

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