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Psychiatrie und Strafjustiz

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Konsequenz eines rationellen Umgangs mit sozialen Fragen, oder wie es ein Zürcher Psychiater 1897<br />

selbstbewusst ausdrückte: «In den verschiedenen sozialen Fragen wird der Arzt um sein Urteil gefragt <strong>und</strong><br />

seine Mitwirkung ist zu ihrer Lösung unerlässlich.» 496 Eng mit einer solchen Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens verb<strong>und</strong>en war die Forderung nach einer Ausweitung der ärztlichen Kompetenzen in der<br />

Strafrechtspflege. Die Psychiater erwarteten von der Vermehrung ihrer Expertenaufgaben eine Erweite-<br />

rung ihrer Definitionsmacht <strong>und</strong> damit einen wichtigen Beitrag zur Konsolidierung ihrer Disziplin. Be-<br />

zeichnend sind diesbezüglich die sozialen Hoffnungen, die Frank in seinem erwähnten Referat, mit einer<br />

Verbesserung der Stellung der psychiatrischen Sachverständigen verband: «Wir würden endlich das erreichen,<br />

was wir schon lange fordern: dass die Oberaufsicht über die Geisteskranken nicht mehr Juristen,<br />

sondern wirklichen Fachmännern übertragen würde <strong>und</strong> dass dann das öffentliche Vertrauen den An-<br />

staltsdirektoren in gleicher Weise <strong>und</strong> mit gleichem Rechte zuteil würde wie den Richtern <strong>und</strong><br />

Staatsanwälten.» 497 Über solche Standesinteressen hinaus vermeinten die Schweizer Psychiater, mit ihrem<br />

kriminalpolitischen Engagement zur sozialen Integration einer sich modernisierenden Klassengesellschaft<br />

beitragen zu können.<br />

Mit dem Propagieren dieses neuen kriminalpolitischen <strong>und</strong> disziplinären Leitbildes ging eine graduelle<br />

Veränderung des beruflichen Selbstverständnisses vieler forensisch tätiger Psychiater einher. Dabei wurde<br />

der von den frühen Gerichtsmedizinern begründete humanitäre Diskurs, der vorgab, geisteskranke Delin-<br />

quentInnen vor ungerechter Strafe zu schützen, zunehmend von einem Diskurs der «sozialen Verteidi-<br />

gung» überlagert, der den Schutz der Gesellschaft vor «gefährliche Individuen in den Vordergr<strong>und</strong> stellte.<br />

In Kapitel 2 ist darauf hingewiesen worden, dass für das Selbstverständnis der frühen Gerichtsärzte eine<br />

kritische Distanz zur Strafpraxis des Vormärz konstitutiv war. Namentlich Gerichtsfälle, in denen die<br />

Todesstrafe zur Diskussion stand, gaben den Ärzten die Möglichkeit, Forderungen nach einer Exkulpati-<br />

on des Angeklagten mit einem humanitären Pathos zu versehen. Anlässlich der Beratung des Zürcher<br />

Strafgesetzbuchs von 1835 stellte beispielsweise der Arzt <strong>und</strong> Medizinalpolitiker Ulrich Zehnder (1798–<br />

1877) die Rechtmässigkeit der Todesstrafe mit der Bemerkung in Frage, «ist es menschlich dem Mitmen-<br />

schen das Leben zu rauben, weil ein Löffel voll Gehirn zu viel oder zuwenig [...] ihn zum Verbrecher ge-<br />

macht». 498 Dass sich an diesen humanitären Diskurs auch um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende noch anknüpfen liess,<br />

zeigen die Ausführungen Forels in der Kontroverse mit Meyer von Schauensee: «Es ist ein geradezu noch<br />

barbarischer Zustand, in dem wir heute leben, ein Zustand in welchem über die Ehre <strong>und</strong> die Zukunft<br />

eines unglücklich kranken Menschen [...] die Meinungen <strong>und</strong> Vorurteile von Richtern, die von der Sache<br />

nicht verstehen oder gar die Unwissenheit ausgeloster Geschworener, d.h. das reinste Hazardspiel ent-<br />

scheidet.» 499<br />

Die Inanspruchnahme dieser humanitären Diskurstradition durch Forel soll aber nicht darüber hinweg<br />

täuschen, dass sich im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts im Selbstverständnis der Schweizer Anstaltspsychiater<br />

eine merkliche Veränderung vollzogen hatte. 500 An die Stelle eines vom Pathos des Mitleids mit<br />

der «unglücklichen Bürgerklasse der Geisteskranken» (Johann Matthias Hungerbühler) geprägten Diskur-<br />

ses trat zunehmend ein Diskurs, der die Tätigkeit des Psychiaters im Dienste des «Volksganzen» <strong>und</strong> der<br />

496 Delbrück, 1897, 5.<br />

497 Frank, 1901, 362.<br />

498 NZZ, 28. September 1835, ebenfalls zitiert bei: Ludi, 1999, 428f.<br />

499 NZZ, 12. Juni, 1902.<br />

500 In diesem Zusammenhang ist ebenfalls darauf hinzuweisen, dass frei praktizierende «Nervenärzte» oder an Privatkliniken tätige<br />

Psychiater auch um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende von einem deutlich individuelleren Verhältnis zu ihren meist dem mittleren oder gehobenen<br />

Bürgertum angehörenden Klienten ausgingen als die an den kantonalen Irrenanstalten tätigen Psychiater; vgl. Müller, 2001.<br />

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