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Psychiatrie und Strafjustiz

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erwähnten Versuche von Strafrechtsreformern <strong>und</strong> Psychiatern nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende zeigen, den<br />

Begriff der «Gemeingefährlichkeit» justiziabel zu fassen. 1116 Das Zitat eines Schweizer Juristen verdeut-<br />

licht, dass sich die einschlägigen Definitionsversuche meist in Tautologien erschöpften, wodurch eine<br />

begriffliche Schärfung des Begriffs der «Gemeingefährlichkeit» unterbleiben musste: «Als gemeingefährlich<br />

bezeichnen wir demnach denjenigen Geisteskranken, der infolge oder während einer psychischen Störung<br />

die Rechtssicherheit verletzt hat <strong>und</strong> weiterhin zu gefährden droht.» 1117 «Gemeingefährlichkeit» wurde in<br />

dieser Perspektive zu einem Synonym für diffuse Rückfallserwartungen. Aus klinisch-psychiatrischer Sicht<br />

waren solche Definitionen allerdings keineswegs befriedigend. So kommentierte ein deutscher Anstaltspsychiater<br />

die verschiedenen Definitionsversuche nicht ohne Ernüchterung: «Diese Definitionen sind<br />

sicher zutreffend. Aber sie sind nicht aus der klinischen Forschung des Geisteszustands, sondern aus der<br />

Polizei- <strong>und</strong> Verwaltungspraxis abgeleitet.» 1118 Dass die «Gemeingefährlichkeit» in erster Linie ein Begriff<br />

der administrativen Praxis war, zeigt auch die Entwicklung im Kanton Bern. Hier lässt sich seit der Mitte<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts eine allmähliche Ausdifferenzierung des Begriffs der «Gemeingefährlichkeit» in den<br />

Bereichen des Irren- <strong>und</strong> Armenpolizeirechts feststellen. Diese bildete gleichsam den Hintergr<strong>und</strong> für die<br />

Verwahrungspraxis aufgr<strong>und</strong> Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs.<br />

«Gefährlichkeit», sichernde Massnahmen <strong>und</strong> Administrativjustiz im Kanton Bern<br />

Anhand der Einweisungsbestimmungen der kantonalen Irrenanstalten <strong>und</strong> dem Armenpolizeirecht lässt<br />

sich in Ansätzen nachvollziehen, wie die Kategorie der «Gemeingefährlichkeit» in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts in der Berner Administrativpraxis Fuss fasste. Die folgenden Ausführungen weisen<br />

zugleich auf Forschungslücken im Bereich der repressiven Armenpolitik hin, die im Rahmen dieser Unter-<br />

suchung freilich nicht geschlossen werden können. 1119 Die beiden angesprochenen Rechtsbereiche waren<br />

auf unterschiedliche Gruppen ausgerichtet. Im Fall der Irrenanstalten standen geistesgestörte, im Fall der<br />

Armen- <strong>und</strong> Arbeitsanstalten bedürftige <strong>und</strong> «liederliche» Personen im Vordergr<strong>und</strong>. Die Verwaltungspra-<br />

xis trennte diese Gruppen jedoch nicht scharf. So waren viele PatientInnen der Irrenanstalten armenge-<br />

nössig. Im Gegenzug wurde zumindest ein Teil der InsassInnen von Armen- <strong>und</strong> Arbeitsanstalten spätes-<br />

tens seit der Jahrh<strong>und</strong>ertwende von Anstaltsleitern als «minderwertig» bezeichnet. 1120 Zu solchen Über-<br />

schneidungen kam es nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> der identischen Funktionslogik beider Rechtsbereiche, rekur-<br />

rierten doch beide auf Erfordernisse der «öffentlichen Sicherheit», um freiheitsentziehender Massnahme<br />

zu begründen.<br />

Wie in Kapitel 5.2 erwähnt worden ist, oblag der Waldau wie anderen Irrenanstalten seit ihrer Gründung<br />

nebst der eigentlichen Krankenbehandlung auch die Aufgabe, «gefährliche Irre» zu verwahren. 1121 Solche<br />

konnten <strong>und</strong> mussten sogar aufgenommen werden, wenn sie die regulären Aufnahmekriterien nicht erfüll-<br />

ten. Artikel 40 des Organisationsreglements der Waldau von 1855 legte die Bedingungen für eine unfrei-<br />

willige Aufnahme «auf polizeilichem Wege» fest. Zu einer Aufnahme war in diesem Fall nebst einem ärzt-<br />

lichen Zeugnis <strong>und</strong> einer Bescheinigung der Gemeinde ein Protokoll des zuständigen Regierungsstatthal-<br />

ters erforderlich, «durch welches genügend bescheinigt ist, dass der Kranke der öffentlichen Sicherheit<br />

1116 Vgl. Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, 13, 1906, 81-84, 426-469; 17, 1910, 185-202, 423-496, sowie die<br />

Ausführungen in Kapitel 3.2.<br />

1117 Asper, 1917, 69.<br />

1118 Weber, 1912, 509.<br />

1119 Vgl. zur den repressiven Aspekten der Armenpolitik im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vor allem die Arbeit von Lippuner, 1998 zum Kanton<br />

Thurgau. Zu Schaffhausen: Schmid, 1993, 206-280. Zu Winterthur: Sassnick, 1989.<br />

1120 Vgl. das Votum des Leiters der Armenanstalt der Stadt Bern in Kühlewil anlässlich der Debatte des Armenpolizeigesetzes im<br />

Grossen Rat in: TBGR, 1912, 47, 52.<br />

1121 Vgl. die Übersicht über die entsprechenden Bestimmungen in andern Kantonen: Lenz, 1899, 204-206; zu den Kantonen mit<br />

eigenen Irrengesetzen: Schwengeler, 1999.<br />

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