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Psychiatrie und Strafjustiz

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Beobachtungen in der Irrenanstalt: Überwachung, Gespräche <strong>und</strong> Testverfahren<br />

In fast allen der untersuchten Fälle hatten sich die Angeschuldigten einer einige Wochen dauernde Beo-<br />

bachtung in einer Irrenanstalt zu unterziehen. Im Gegensatz zu Personen, die zivilrechtlich begutachtet<br />

werden sollten, bot die zwangsweise Einweisung von Untersuchungshäftlingen in die kantonalen Irrenan-<br />

stalten keine rechtlichen Probleme. Die Situation der zur Begutachtung Eingewiesenen unterschied sich<br />

bezüglich Aufenthalt <strong>und</strong> Verpflegung kaum von derjenigen der übrigen PatientInnen der untersten Ver-<br />

pflegungsklasse. Genauso wie alle andern PatientInnen hatten sie sich der Anstaltsordnung <strong>und</strong> den An-<br />

ordnungen der Ärzte <strong>und</strong> WärterInnen zu fügen. Die ExplorandInnen wurden ebenfalls zu Arbeiten in-<br />

<strong>und</strong> ausserhalb der Anstalt herangezogen. 821 Und wie bei andern nicht freiwillig aufgenommenen Patien-<br />

tInnen kamen Fluchtversuche vor. 822 Allerdings akzentuierte sich die Rolle der psychiatrischen «Anstalts-<br />

technologie» im Fall der zur Begutachtung Eingewiesenen zusätzlich. Die permanente Überwachung, die<br />

Eugen Bleuler als die «wichtigste Aufgabe» einer Irrenanstalt bezeichnet hatte 823, bekam dabei eine neue<br />

Qualität. Stand bei regulären Patienten die Überwachungsfunktion der Anstalt zumindest theoretisch im<br />

Dienst einer therapeutischen Behandlung, so wurde sie bei Begutachtungsfällen zum Hauptzweck des<br />

Anstaltsaufenthalts. Die Anstaltseinweisung von StraftäterInnen diente primär dazu, diese in einen mög-<br />

lichst homogenen Beobachtungsraum zu versetzen. In dieser Phase der Begutachtungspraxis war die In-<br />

formationsbeschaffung durch die Sachverständigen unmittelbar an die Existenz psychiatrischer Institutio-<br />

nen geknüpft, die erstmals eine längere fachärztliche Beobachtung der Exploranden erlaubten.<br />

Objekt der Anstaltsbeobachtung war zunächst das tägliche <strong>und</strong> nächtliche Verhalten der ExplorandInnen.<br />

Die Sachverständigen stützten sich bei der Abfassung des Gutachtens in erster Linie auf die von ihnen<br />

selbst <strong>und</strong> den Abteilungsärzten fortlaufend geführten Krankengeschichten <strong>und</strong> auf Beobachtungen der<br />

WärterInnen. In Fällen, wo ExplorandInnen bereits Anstaltsaufenthalte hinter sich hatten, griffen die<br />

Sachverständigen auf die früheren Krankenakten zurück. 824 Solche Informationen über das Verhalten in<br />

der Anstalt waren demnach (Neben-) Produkte der üblichen Verarbeitung <strong>und</strong> Verschriftlichung von<br />

Patientendaten in den Irrenanstalten. 825 Sofern diese Informationen der Behandlung <strong>und</strong> Überwachung<br />

dienten, handelte es sich dabei um ein eigentliches Disziplinar- <strong>und</strong> Normalisierungswissen. Das Gutach-<br />

ten über die 35jährige Haushälterin Marie H., die im Juni 1898 zur Beobachtung in die Waldau eingewie-<br />

sen wurde, vermittelt einen Eindruck einer typischen Schilderung eines Anstaltsaufenthalts. Die Sachver-<br />

ständigen berichteten über die anfänglichen Schlafprobleme von Marie H, ihren Umgang mit andern Pati-<br />

entinnen <strong>und</strong> den Wärterinnen, über die Erledigung der ihr aufgetragenen Arbeiten <strong>und</strong> über ihre «Wutan-<br />

fälle», wenn sie sich den Anweisungen der Wärterinnen nicht fügen wollte. Solche Störungen der Anstalts-<br />

ordnung wurden in diesem Fall besonders detailliert wiedergegeben. Ein grosses Gewicht mass das Gut-<br />

achten ebenfalls der Beobachtung allfälliger psychischer Auffälligkeiten <strong>und</strong> Symptome bei: «Stimmenhö-<br />

ren wurde hier nie beobachtet [...] Wahnideen äusserte sie auch keine, sie ist aber wenig mitteilsam, zeigt<br />

ein geziertes Wesen. Sie liebt es, wenn man sich mit ihr abgibt, sucht sich bei der Visite bemerkbar zu<br />

machen <strong>und</strong> gibt aber doch kaum eine recht Antwort, wenn man sie anspricht.» 826<br />

Ein wichtiger Bestandteil der Anstaltsbeobachtung war das direkte Gespräch zwischen den Sachverständi-<br />

gen <strong>und</strong> den ExplorandInnen. Diese Unterredungen konnten in unterschiedlicher Weise Eingang in die<br />

821 Vgl. UPD KG 8485, Krankengeschichte über Ernst R.<br />

822 Vgl. UPD KG 6310, Krankengeschichte über Karl Ludwig S., diverse Einträge betr. Fluchtversuche.<br />

823 Bleuler, 1898, 22.<br />

824 Vgl. UPD KG 6357, Psychiatrisches Gutachten über Elise L, o.D. [1908].<br />

825 So war es üblich, dass die Irrenanstalten untereinander Krankengeschichten austauschten.<br />

826 UPD KG 4719, Psychiatrisches Gutachten über Marie H., 1. September 1898.<br />

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