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Psychiatrie und Strafjustiz

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Krafft-Ebing, mehr im «Gebiete des Charakters, des Gemüts, der Triebe als im Gebiet der Intelligenz».<br />

Solche durch medizinische Laien oft verkannte «Zerrbilder der Gesamtpersönlichkeit» würden einen gros-<br />

sen Teil der «zweifelhaften Seelenzustände» vor Gericht ausmachen. 235<br />

Krafft-Ebing konzeptualisierte damit eine «Menge von Mittelzuständen von geistiger Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Krankheit». Besonders deutlich wurde dies im Fall des bereits von Grohmann <strong>und</strong> Prichard beschriebenen<br />

Zustandsbilds des «moralischen Schwachsinns», dem Krafft-Ebing 1871 einen längeren Beitrag widmete.<br />

Darunter verstand er einen «completen Defekt aller ethischen Gefühle <strong>und</strong> moralischen Urteile», einen<br />

«Zustand moralischer Idiotie, der je nach Auftreten oder Latentbleiben gewisser unsittlicher, egoistischer,<br />

verbrecherischer Impulse bald in verbrecherischen Handlungen, bald in Immoralität <strong>und</strong> Gemütlosigkeit<br />

Ausdruck findet». 236 Im Gegensatz zu StraftäterInnen, die aufgr<strong>und</strong> «freiwilliger Hingabe an das Böse mit<br />

willkürlicher Aufgebung der guten Prinzipien» handelten, sei bei solchen «moralisch Schwachsinnigen» die<br />

«Möglichkeit einer freien Wahl <strong>und</strong> Selbstbestimmung» durch eine angeborene oder erworbene «Hirner-<br />

krankung» ausgeschlossen. 237 Krafft-Ebing war sich bewusst, wie schmal er damit die Grenze zwischen<br />

Verbrechen <strong>und</strong> Geistesstörung zog. Er wandte sich denn auch gegen ein Fallenlassen jener «Schranke,<br />

welche Laster von einer Krankheit des Gehirns trennt» <strong>und</strong> damit gegen eine generelle Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens. 238 Trotz dieser rechtspolitischen Vorsicht, verdeutlichen Krafft-Ebings frühe Bei-<br />

träge zur Degenerationstheorie das Potenzial des neuen Deutungsmusters im Hinblick auf eine Medikali-<br />

sierung sozialer Devianz. So liessen sich etwa Verhaltensweisen, die traditionellerweise als amoralisch oder<br />

unsittlich betrachtet wurden, pathologisieren: «Ein exemplarisch schlechter Leum<strong>und</strong>, eine habituell <strong>und</strong><br />

systematisch unsittliche Lebensführung müssen geradezu die Aufmerksamkeit darauf lenken, ob nicht<br />

organische, dem freien Willen entzogene Dispositionen <strong>und</strong> Motive das Individuum unablässig auf die<br />

schlimme Seite hinüber ziehen.» 239<br />

Das Etablieren der Degenerationstheorie bedeutete eine beträchtliche Ausweitung des psychiatrischen<br />

Deutungsanspruchs in der Justizpraxis. Das Vererbungsparadigma gab den psychiatrischen Sachverständi-<br />

gen vor Gericht plausible Erklärungen für die Entstehung von Geistesstörungen zur Hand. Gleichzeitig<br />

erlaubte das Modell der «verminderten Widerstandskraft» eine weitgehende Pathologisierung soziale Devi-<br />

anz. Mit dem Fokus auf eine angeborene Verminderung der «Widerstandskraft» modifizierten die Dege-<br />

nerationspsychiater gleichsam die bürgerliche Willenssemantik. Die Problematisierung der Willensfreiheit<br />

beschränkte sich nun nicht mehr auf ausgesprochene Geisteskrankheiten oder auf selten auftretende iso-<br />

lierte Störungen des Willens, sondern erfasste ein breites Feld von Abweichungen, die sich nur teilweise<br />

im Differenzschema Krankheit/Ges<strong>und</strong>heit repräsentieren liessen. Über die damit verb<strong>und</strong>ene Auswei-<br />

tung der psychiatrischen Kompetenzansprüche hinaus bewirkte das neue Krankheitskonzept eine Ver-<br />

schiebung auf der Ebene des juristisch-psychiatrischen Normalitätsdispositivs. Hatte bisher die «Ges<strong>und</strong>-<br />

heit» der DelinquentInnen den Bezugspunkt für die strafrechtliche Verantwortlichkeit dargestellt, so verschob<br />

sich dieser unter dem Einfluss der Degenerationstheorie mehr <strong>und</strong> mehr in Richtung einer imaginä-<br />

ren Durchschnittsnorm. Resultat war die Entstehung einer Kategorie von StraftäterInnen, die zwar nicht<br />

als geisteskrank im eigentlichen Sinn galten, deren Taten sich jedoch auf eine «abnorme Disposition» zu-<br />

rückführen liessen. Solche Medikalisierungstendenzen brachen die aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-<br />

derts stammende Engführung von juristischem Schuld- <strong>und</strong> medizinischem Krankheitsbegriff auf <strong>und</strong><br />

235 Krafft-Ebing, 1868, 191, 197.<br />

236 Krafft-Ebing, 1871, 366.<br />

237 Krafft-Ebing, 1871, 373.<br />

238 Krafft-Ebing, 1868, 195, 198; Krafft-Ebing, 1871, 361; Krafft-Ebing, 1872, 31.<br />

239 Krafft-Ebing, 1871, 379.<br />

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