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Psychiatrie und Strafjustiz

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den erneut wegen Sittlichkeitsdelikten verurteilten Ernst S. wurden sichernde Massnahmen abgelehnt.<br />

Ernst S. war diesmal zwar als vermindert zurechnungsfähig bef<strong>und</strong>en, seine Strafe jedoch nicht gemildert<br />

worden. Der Regierungsrat machte in seiner Begründung klar, dass die sichernden Massnahmen nur als<br />

Ersatz für teilweise wegfallende Strafen, nicht aber als zusätzliche Sanktionen anzuwenden seien. 1181<br />

8.4 Die Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» durch psychiatrische Sachverständige<br />

Die untersuchten Einzelfälle zeigen, dass psychiatrische Gutachten bei Entscheidungen über die «Ge-<br />

meingefährlichkeit» geistesgestörter StraftäterInnen eine massgebende Rolle spielten. Die Beurteilung der<br />

«Gemeingefährlichkeit» schloss damit eng an Aussagen über die Zurechnungsfähigkeit an. Analog zur<br />

Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit kam den psychiatrischen Sachverständigen die Aufgabe zu, die<br />

administrativ-juristische Kategorie der «Gemeingefährlichkeit» im konkreten Fall auszudeuten <strong>und</strong> die<br />

Justiz- <strong>und</strong> Verwaltungsbehörden mit plausibel erscheinenden Deutungsangeboten zu versorgen. Dieses<br />

Unterkapitel untersucht anhand der vier Fälle, die in die beschriebene Praxisänderung von 1904/08 invol-<br />

viert waren, nach welchen Kriterien die Berner Psychiater die «Gemeingefährlichkeit» dieser Straftäter<br />

beurteilten <strong>und</strong> auf welche Deutungsmuster sie sich dabei bezogen. Anhand zweier weiterer (Kontrast-)<br />

Fälle können die aus dieser beschränkten Fallauswahl gezogenen Schlussfolgerungen zusätzlich validiert<br />

<strong>und</strong> nuanciert werden. Um deutlich zu machen, dass die «Gemeingefährlichkeit» eines Delinquenten nicht<br />

einfach eine gegebene Tatsache, sondern das Produkt eines komplexen Zuschreibungsprozesses war, wer-<br />

den die im Zuge der juristisch-administrativen Praxis produzierten Deutungskonstruktionen abschliessend<br />

jenen Alltagsbeobachtungen gegenübergestellt, die in der lebensweltlichen Umgebung über dieselben Per-<br />

sonen zirkulierten.<br />

Psychiatrische Aussagen über die «Gemeingefährlichkeit» von DelinquentInnen waren kaum an normative<br />

Bezugspunkte geb<strong>und</strong>en. Das Berner Strafgesetzbuch sprach diesbezüglich lediglich von der Erfordernis<br />

der «öffentlichen Sicherheit». Auch die einschlägigen psychiatrischen Handbücher schwiegen sich weitge-<br />

hend über konkrete Kriterien aus. So behandelte etwa Eugen Bleuler in seinem Lehrbuch der <strong>Psychiatrie</strong> von<br />

1916 die Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» im Gegensatz zur Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht<br />

weiter. 1182 Wie bereits ausgeführt, tauchte das Problem, wie die «Gemeingefährlichkeit» eines Delinquen-<br />

ten im Einzelfall zu bestimmen sei, hingegen im Kontext der Strafrechtsdebatte auf, als es darum ging, die<br />

entsprechenden Kriterien justiziabel zu fassen. 1183 Ernst Delaquis (1878–1951) meinte beispielsweise 1913<br />

vor dem Schweizerischen Juristenverein, dass eine «Gefährdung der öffentlichen Sicherheit» darin zu sehen sei,<br />

«dass nach Geisteszustand, Vorleben, Charakter des Kranken eine Wiederholung oder Erneuerung delikti-<br />

scher Taten befürchtet werden muss». 1184 Wie andere Juristen identifizierte Delaquis den Begriff der «Ge-<br />

meingefährlichkeit» in erster Linie mit einem potenziellen Rückfall. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen<br />

Rückfalls verstand er ihrerseits als eine Funktion des Geisteszustands, des Vorlebens oder des Charakters<br />

der betreffenden StraftäterInnen. Delaquis Definition verdeutlicht, um was es bei der Beurteilung der<br />

«Gemeingefährlichkeit» in den Augen der Justiz letztlich ging: Um die Erstellung einer Prognose über das<br />

künftige Verhalten von DelinquentInnen im Hinblick auf erneute Verstösse gegen das Strafgesetz. Die mit<br />

der Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» beauftragten Psychiater hatten demnach nicht wie im Fall der<br />

Zurechnungsfähigkeit eine begangene Handlung zu beurteilen, sondern ihren Bef<strong>und</strong> über den Geisteszu-<br />

1181 StAB A II, Band 1472, RRB 5626.<br />

1182 Bleuler, 1916, 453-465. Ebenfalls nicht weiter auf die Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» gehen Delbrück, 1897, 14-30<br />

<strong>und</strong> Hoche, 1901 ein.<br />

1183 Vgl. die einschlägige Spezialliteratur: Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, 13, 1906, 81-84, 426-469; 17,<br />

1910, 185-202, 423-496; Aschaffenburg, 1912; Weber, 1912; Göring, 1915.<br />

1184 Delaquis, 1913, 527f.<br />

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