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Psychiatrie und Strafjustiz

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lassen sich Austauschbewegungen zwischen den zwei Ebenen in beide Richtungen feststellen. Zum einen bildete<br />

die sich etablierende arbeitsteilige Zusammenarbeit zwischen Justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> den Erfahrungshorizont<br />

vieler Strafrechtsreformer, die beruflich oft selbst als Richter, Justizbeamte oder Sachverständige tätig<br />

waren. Persönliche Netzwerke <strong>und</strong> praktische Erfahrungen aus dem Justizalltag lieferten auf diese Weise<br />

wesentliche Impulse für die Strafrechtsreform. Sowohl der Widerstand der Schweizer Psychiater gegen die<br />

Fortschreibung der Willenssemantik im schweizerischen Strafgesetzbuch, als auch die Forderung nach<br />

einer «anderen» <strong>und</strong> effizienteren Bestrafung vermindert zurechnungsfähiger DelinquentInnen zielten<br />

darauf ab, Erfahrungen aus der Justizpraxis in kriminalpolitische Lernprozesse zu transformieren. Zum<br />

andern ist davon auszugehen, dass die Entstehung eines juristisch-psychiatrischen Diskussionszusammenhangs<br />

<strong>und</strong> die kriminalpolitischen Schulterschlüsse zwischen führenden Juristen <strong>und</strong> Psychiatern massgeb-<br />

lich dazu beitrugen, Richter, Staatsanwälte, Geschworene <strong>und</strong> Strafverteidiger von den Chancen einer arbeits-<br />

teiligen Zusammenarbeit im Hinblick auf eine wirksamere soziale Kontrolle zu überzeugen.<br />

Demedikalisierungstendenzen <strong>und</strong> die Problematik der institutionellen Ausdifferenzierung<br />

Die ersten beiden Teile der Untersuchung haben aufgezeigt, wie sich zwischen 1890 <strong>und</strong> 1920 – wenn<br />

auch in einem unterschiedlichen Rahmen <strong>und</strong> unter unterschiedlichen Umständen – sowohl auf der Ebe-<br />

ne der schweizerischen Rechtspolitik, als auch in der Berner Justizpraxis das Leitbild einer arbeitsteiligen<br />

Kriminalitätsbewältigung etablierte, das eine primär auf Vergeltung <strong>und</strong> Abschreckung bedachte Krimi-<br />

nalpolitik zunehmend ablöste. Definitiv zum Durchbruch gelangte das neue Leitbild 1942 mit der Inkraft-<br />

setzung des schweizerischen Strafgesetzbuchs. Allerdings lassen sich in dieser Entwicklung auch gegenläufige Tenden-<br />

zen ausmachen. Wie erwähnt, befürchteten einerseits traditionalistische Juristen <strong>und</strong> Politiker von einer<br />

teilweisen Medikalisierung des Strafrechts eine Unterminierung des Verantwortlichkeitsprinzips, andererseits<br />

wurden seit dem Ersten Weltkrieg auch innerhalb der psychiatrischen scientific community Stimmen laut,<br />

die die Fähigkeit der Disziplin, zur gesellschaftlichen Bewältigung kriminellen Verhaltens beizutragen,<br />

zunehmend skeptischer beurteilten. In der Zwischenkriegszeit plädierten namhafte Psychiater wie Bleuler<br />

oder Hans W. Maier offen dafür, die Messlatte für die strafrechtliche Verantwortlichkeit künftig wieder<br />

tiefer anzusetzen <strong>und</strong> zu verwahrende DelinquentInnen aus den psychiatrischen Anstalten in den regulä-<br />

ren Strafvollzug abzuschieben. Nach der Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuchs avancierten<br />

solche Massnahmen sogar zur offiziellen Strategie der Schweizer Psychiater. Tendenzen, die auf ein Zu-<br />

rückdrängen des medizinischen Bezugssystems zugunsten anderer Instrumente der sozialen Kontrolle<br />

abzielten, sind in der vorliegenden Untersuchung unter dem analytischen Begriff der Demedikalisierung<br />

zusammengefasst worden. Das Einschwenken vieler Schweizer Psychiater auf solche Demedikalisie-<br />

rungsstrategien in der Zwischenkriegszeit bedeutete nicht nur eine Kehrwende gegenüber dem Medikali-<br />

sierungsoptimismus, mit dem die Disziplin in den 1890er Jahren eine Reform des Schuldstrafrechts gefor-<br />

dert hatte, sondern bedingt auch eine Nuancierung des von der historischen Forschung gezeichneten Bilds<br />

einer primär auf die Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs bedachten <strong>Psychiatrie</strong>. An verschiedenen<br />

Stellen dieser Untersuchung ist gezeigt worden, dass sich die (wandelnden) kriminalpolitischen Positions-<br />

bezügen der Schweizer Psychiater nicht einfach als intentionale <strong>und</strong> kontinuierliche Realisierung eines<br />

professional project verstehen lassen; diese waren vielmehr massgeblich durch situative Rahmenbedingungen,<br />

aber auch durch disziplininterne Differenzen geprägt. So lässt sich anhand verschiedener Debatten inner-<br />

halb der psychiatrischen scientific community aufzeigen, dass die erwähnte kriminalpolitische Kehrtwende der<br />

Schweizer Psychiater zu einem guten Teil als Reaktion auf die institutionellen Herausforderungen betrach-<br />

tet werden muss, die sich – gleichsam als Rückkoppelungseffekte – aus einer forcierten Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens in der Justizpraxis ergaben. Denn spätestens seit dem Ersten Weltkrieg sahen sich<br />

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