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Psychiatrie und Strafjustiz

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arkeit der begangenen Handlungen wussten, dennoch aber nicht im Stande waren, deren moralische<br />

Verwerflichkeit auch gefühlsmässig nachzuvollziehen. Fehlende Einsicht <strong>und</strong> Bereitschaft, sein Verhalten<br />

zu ändern, bescheinigten die Sachverständigen auch Fritz R.: «Daneben herrscht eine grosse Gemüts-<br />

stumpfheit, da wo sittliche Gefühle <strong>und</strong> Pflichten ins Spiel treten. Versetzung in die Irrenanstalt, ins Ar-<br />

beitshaus, Ermahnung durch Nachbarn, Behörden lassen ihn ungemein gleichgültig <strong>und</strong> unbeeinflusst.» 982<br />

Das Gutachten implizierte damit, dass sich Fritz R., wenn er «normal» gewesen wäre, sehr wohl zu einer<br />

Verhaltensänderung, hätte bewegen lassen. Die <strong>Psychiatrie</strong> der Jahrh<strong>und</strong>ertwende verdichtete solche An-<br />

zeichen einer Gleichgültigkeit gegenüber Normen <strong>und</strong> sozialen Erwartungen im umstrittenen Bild des<br />

«moralischen Schwachsinns», wie es auch Glaser, beschrieb: «Diese moralischen Idioten können mancher-<br />

lei Fähigkeiten besitzen [...], aber sie besitzen gegenüber dem normalen Menschen einen Defekt, den<br />

Mangel an Verständnis <strong>und</strong> Gefühl für die Vorstellungen von Sitte, Moral <strong>und</strong> Recht, der für ihre Umge-<br />

bung <strong>und</strong> schliesslich meist auch für sie selbst verhängnisvoll wird.» Glaser ging davon aus, dass der «geis-<br />

tig normale Mensch» imstande sei, «Moralbegriffe» zu bilden, «deren Walten den friedlichen <strong>und</strong> ehrlichen<br />

Verkehr innerhalb der menschlichen Gesellschaft ermöglicht». 983 Durch das Zurückführen von «Mängeln<br />

an sittlichen Gefühlen» oder einer «Gemütsstumpfheit» auf einen «abnormen Charakter» entzogen die<br />

Psychiatern lebenswelt lichen Deutungsmustern gleichsam den Boden. Feststellungen über abweichendes<br />

Verhalten aus dem Arbeits- <strong>und</strong> Familienalltag wie ein «bösartiger Charakter», Nachlässigkeit, Gleichgül-<br />

tigkeit oder ein «unsteter Blick» erhielten dadurch den Status psychopathologischer Symptome. So war in<br />

den Augen der Sachverständigen die Einsichtslosigkeit von Fritz R. nicht die Folge einer bösen Absicht,<br />

sondern einer krankhaften Unfähigkeit, anders zu handeln. Im Gegensatz zur Beurteilung von «Schwach-<br />

sinnigen» brachten die Psychiater die «Gemütsstumpfheit» von «Psychopathen» aber kaum mit Intelli-<br />

genzminderungen in Verbindung. Diese war vielmehr eine direkte Folge einer «minderwertigen Anlage».<br />

Eine «psychopathische Anlage» <strong>und</strong> die daraus resultierenden «Eigentümlichkeiten im Denken, Fühlen<br />

<strong>und</strong> Handeln» konnten sich in den Augen der Psychiater nicht nur in einer «moralischen Schwäche», son-<br />

dern auch in einer unzureichenden Affekt- <strong>und</strong> Triebkontrolle manifestieren. So hiess es im Gutachten<br />

über Fritz R.: «Als Entarteter erweist sich R. aber auch durch seine Unfähigkeit einer sittlichen Selbstfüh-<br />

rung durch das Vorwiegen seines Trieblebens, die gesteigerte, zeitweise ins Krankhafte gedeihende Reiz-<br />

barkeit, welche sich bei ihm in wüsten häuslichen Szenen äusserte, in welchen er Frau <strong>und</strong> Kinder tätlich<br />

misshandelte, aber auch seiner ferneren Umgebung gegenüber sich durch seine soziale Unverträglichkeit<br />

bemerkbar machte, Auflauern mit Messer, Bewerfen von Steinen, Branddrohungen, Angriff mit Beil<br />

etc.» 984 Eine ähnliche «abnorme Reizbarkeit» stellten die Sachverständigen bei Richard Vogel fest <strong>und</strong><br />

bezogen sich dabei auf die Mitteilungen, die seine Mutter gegenüber den Untersuchungsbehörden ge-<br />

macht hatte: «Wir kennen bei Vogel [...] eine andere Schwäche, wie wir ihr bei Psychopathen begegnen:<br />

Wir lesen im Briefe seiner Mutter <strong>und</strong> im Berichte des Polizeikommissars K., dass Vogel bei Gelegenheit<br />

äusserst heftig werden konnte, ‹so dass er sich nicht mehr zu helfen weiss <strong>und</strong> nicht mehr weiss, was er<br />

tut›. Wir glauben, dass er diese Schwäche, diese Reizbarkeit auch am [Tag der Tat] gezeigt hat.» 985<br />

Im Begriff der «abnormen Reizbarkeit» fassten die Psychiater ein Bündel von Verhaltensweisen zusam-<br />

men, bei denen in ihren Augen ein Missverhältnis zwischen äusseren Reizen <strong>und</strong> der beobachteten Ge-<br />

fühlsreaktion vorlag. Dieses Missverhältnis orientierte sich an der Norm eines «inneren Gleichgewichts»,<br />

wie es Kraepelin beispielsweise im Zusammenhang mit dem «anergetischen Schwachsinn» formuliert hat-<br />

982 PZM KG o.N. (1908), Psychiatrisches Gutachten über Fritz R., o.D. [1908].<br />

983 Glaser, 1911, 9.<br />

984 PZM KG o.N. (1908), Psychiatrisches Gutachten über Fritz R., o.D. [1908].<br />

985 Speyr/Brauchli, 1894, 286, vgl. 275, 279.<br />

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