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Psychiatrie und Strafjustiz

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kurz auf die Reorganisation der psychiatrischen Nosologie durch Kraepelin ein. Im Zentrum der nächsten<br />

Abschnitte steht vielmehr die Frage, wie bestimmte diskursive Muster den Berner Psychiater in der Justiz-<br />

praxis erlaubten, Straftaten unter Bezugnahme auf solche «einfache Störungen» zu interpretieren. Wieder<br />

aufgegriffen wird in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern in solchen Sinngebungsprozessen die<br />

Perspektiven medizinischer Laien <strong>und</strong> psychiatrischer Experten aufeinander trafen.<br />

Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen sah Kraepelin nicht in der symptomatischen Abgrenzung, son-<br />

dern in den Ursachen <strong>und</strong> vor allem im unterschiedlichen Verlauf massgebliche Kriterien für die Klassifi-<br />

kation von Geisteskrankheiten. In den Vordergr<strong>und</strong> rückte damit die Erstellung einer Prognose über den<br />

künftigen Krankheitsverlauf. 886 Gestützt auf Patientendaten aus seiner Heidelberger Klinik, postulierte<br />

1899 Kraepelin in seinem Lehrbuch einen Dualismus zwischen den Krankheitseinheiten der «Dementia<br />

praecox» <strong>und</strong> dem «Manisch-depressivem Irresein». Unter dem Begriff der «Dementia praecox» fasste er<br />

im Wesentlichen jene Zustände zusammen, die traditionellerweise als «Wahnsinn» oder «Verrücktheit»<br />

bezeichnet worden waren. 887 Bei diesen Patienten stellte Kraepelin Sinnestäuschungen, eine Zerfahrenheit<br />

des Denkens <strong>und</strong> Sprechens, Wahnvorstellungen, eine «gemütlichen Verblödung», die sich in Form von<br />

Gleichgültigkeit äussere, einen Verlust der Antriebe zum Handeln, sowie in Einzelfällen stereotype Bewe-<br />

gungs- <strong>und</strong> Handlungsabläufe fest. Krankheitsbilder der «Dementia praecox» wiesen nach Kraepelin die<br />

Tendenz auf, in einen unheilbaren «stumpfen» <strong>und</strong> «teilnahmslosen Schwachsinn» überzugehen. 888 Im<br />

Gegensatz dazu stellte er «manisch-depressiven» Patienten eine deutlich bessere Prognose. 889 Solche<br />

Krankheitsbilder umfassten die traditionellen (changierenden) Zustandsbilder der «Manie» <strong>und</strong> der «Me-<br />

lancholie». Eine Weiterentwicklung erfuhr das Konzept der «Dementia praecox» durch den Zürcher Psy-<br />

chiater Eugen Bleuler, der 1911 den Begriff «Schizophrenie» prägte. Bleuler modifizierte Kraepelins<br />

Krankheitskonzept insofern, dass er dessen generell ungünstige Prognose in Frage stellte. Zudem grup-<br />

pierte er die Vielfalt der vorkommenden Symptome in «Gr<strong>und</strong>symptome» <strong>und</strong> «akzessorische Symptome»<br />

<strong>und</strong> befürwortete eine psychoanalytische Interpretation einzelner Symptomkomplexe. Schliesslich postu-<br />

lierte er die Existenz einer «latenten Schizophrenie». 890<br />

Persönlichkeitsveränderungen <strong>und</strong> Krankheitsprozesse<br />

Auch die Berner Psychiater massen in ihren Gutachten der Entstehung <strong>und</strong> dem Verlauf von Geistes-<br />

krankheiten eine grosse Bedeutung bei. So hiess es 1920 in einem Gutachten der Waldau: «Um den Bo-<br />

den, auf dem die Tat entstanden ist, richtig beurteilen <strong>und</strong> das Verhältnis zwischen den ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

krankhaften Seiten richtig abschätzen zu können, müssen wir der Entwicklung der ganzen Persönlichkeit<br />

nachgehen [...].» 891 Bei eigentlichen Geisteskrankheiten diente das Aufspüren von Persönlichkeitsverände-<br />

rungen den Sachverständigen oft als Schlüssel zur Ausdeutung einer Straftat. Die eingeklagten Delikte<br />

wurden dadurch in den Kontext einer Krankheitsgeschichte gestellt, die ihrerseits die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit abgab. 892 So bemühten sich die Sachverständigen im Fall des<br />

26jährigen Friedrich H., den Verlauf von dessen Geisteskrankheit akribisch zu rekonstruieren. Friedrich<br />

886 Zu Kraepelin: Roelcke, 2000; Roelcke, 1999, 152-165; Roelcke, 1999a; Weber/Engstrom, 1997; Hoff, 1994;<br />

Hoff/Berrios/Hauser/Engstrom, 1995; Engstrom, 1991; Trenckmann, 1988, 201-240.<br />

887 Hoff, 1994, 112.<br />

888 Vgl. Kraepelin, 1899 II, 138-145, 156f. Kraepelin unterschied in der sechsten Auflage seines Lehrbuchs von 1899 zwischen<br />

drei Formen der «Dementia praecox»: «Hebephrenie», «Katatonie» <strong>und</strong> «Dementia paranoides». Die «Hebephrenie» wurde 1871<br />

erstmals von Ewald Hecker, die «Katatonie» 1874 von Karl Kahlbaum beschrieben. In den späteren Lehrbuchausgaben fächerte<br />

Kraepelin die Krankheitseinheit noch weiter auf.<br />

889 Kraepelin, 1899 II, 416-419.<br />

890 Bleuler, 1911; Hell/Scharfetter/Möller, 2001; Geiser, 1997; Hoenig, 1995, 342-344.<br />

891 UPD KG 8646, Psychiatrisches Gutachten über Hermann F., 19. Juni 1920.<br />

892 Vgl. ebenfalls die folgenden Vergleichsbeispiele: UPD KG 7132, UPD KG 7153, PZM KG 4086, UPD KG 8485, UPD KG<br />

8646.<br />

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