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Psychiatrie und Strafjustiz

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3. Teil: Demedikalisierungs- <strong>und</strong> Ausdifferenzierungstendenzen<br />

Die ersten beiden Teile dieser Untersuchung haben den Verlauf <strong>und</strong> die Umstände jener Lernprozesse<br />

analysiert, die zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts auch in der Schweiz zur Formulierung <strong>und</strong> teilweisen Imp-<br />

lementierung einer regulativen Kriminalpolitik geführt haben, welche in einer partiellen Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens ein probates Instrument zur gesellschaftlichen Kriminalitätsbewältigung sah. Die<br />

Analyse hat gezeigt, dass bei diesen kriminalpolitische Lernprozessen Vertreter der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong><br />

sowohl auf der Ebene der Rechtspolitik, als auch der Justizpraxis eine massgebliche Rolle spielten. Zum<br />

einen beteiligte sich die psychiatrische scientific community überaus intensiv am Prozess der Vereinheitlichung<br />

<strong>und</strong> Reform des Strafrechts. Wie zum andern am Beispiel des Kantons Bern gezeigt werden kann, stiessen<br />

psychiatrische Deutungsmuster sowie Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte seit den 1890er Jahren<br />

auch in der Justizpraxis auf wachsende Akzeptanz. Die teilweise Vorwegnahme der Strafrechtsreform im<br />

Justizalltag blieb indes nicht ohne Folgen für die <strong>Psychiatrie</strong>. Namentlich die wachsende personelle <strong>und</strong><br />

institutionelle Belastung durch Begutachtungs- <strong>und</strong> Verwahrungsaufgaben stellte die Disziplin vor be-<br />

trächtliche Herausforderungen. Der Umgang der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> mit solchen Rückkoppelungseffekten,<br />

die sich aus einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens ergaben, ist Gegenstand des dritten<br />

Teils dieser Untersuchung. Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergr<strong>und</strong>. Zu untersuchen ist einerseits die<br />

Frage, inwiefern die festgestellten Medikalisierungstendenzen Impulse zu einer Ausdifferenzierung der Diszip-<br />

lin im Sinne einer innerwissenschaftlichen Spezialisierung gegeben haben. Angesichts der bekannten Insti-<br />

tutionalisierungsdefizite der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> in der Schweiz stellt sich im Gegenzug die Frage<br />

nach den Umständen, unter denen solche Impulse versandeten oder in funktional äquivalente Strategien<br />

zum Auffangen der erwähnten Rückkoppelungseffekte umgebogen wurden. In diesem Zusammenhang<br />

wird es namentlich darum gehen, die bereits angesprochenen Strategien einer teilweisen Demedikalisierung des<br />

Strafrechts näher zu konturieren <strong>und</strong> in den Kontext der psychiatrischen Standespolitik der ersten Hälfte<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zu stellen. Deutlich wird dabei, dass die kriminalpolitische Orientierung der Schwei-<br />

zer <strong>Psychiatrie</strong> in der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts eine erhebliche Kehrwende erfuhr, die das in den<br />

1890er Jahren formulierte disciplinary project einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens weitge-<br />

hend revidierte.<br />

Kapitel 9 beschäftigt sich in zweifacher Hinsicht mit dem kriminalpolitischen Orientierungswechsel inner-<br />

halb der psychiatrischen Disziplin. Zum einen wird die Debatte um die Errichtung spezieller forensisch-<br />

psychiatrischer Verwahrungsinstitutionen untersucht, die insofern von besonderer Relevanz ist, als dabei die<br />

Strategien der Disziplin im Hinblick auf die wachsende Belastung psychiatrischer Institutionen durch<br />

Verwahrungsaufgaben zur Diskussion standen. Zum andern wird es darum gehen, die kriminalpolitische<br />

Neuorientierung der Disziplin anhand verschiedener Debatten über die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit im<br />

Übergangsbereich zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit festzumachen. Kapitel 10 bildet insofern einen Einschub,<br />

als hier nochmals an Kapitel 4 angeknüpft wird. Zur Sprache kommt die parlamentarische Verabschiedung der<br />

schweizerischen Strafrechtsreform in der Zwischenkriegszeit. Im Vordergr<strong>und</strong> steht dabei die Frage, inwiefern<br />

sich die Relevanz der strafrechtlichen Medikalisierungspostulate durch die Politisierung des Strafrechtsre-<br />

form verschob. Kapitel 11 untersucht schliesslich die Auswirkungen der Einführung des schweizerischen Strafge-<br />

setzbuchs auf die forensisch-psychiatrische Praxis sowie die Reaktionen der Schweizer Psychiater auf die Heraus-<br />

forderungen, welche der Vollzug der Strafrechtsreform für die Disziplin bedeutete.<br />

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