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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Ärzte, die sich im deutschsprachigen Raum für den medizinischen Kompetenz- <strong>und</strong> Deutungsan-<br />

spruch stark machten, waren meist Universitätsprofessoren, die verschiedene medizinische Fächer wie<br />

Physiologie oder Gerichtsmedizin vertraten. Nur wenige dieser Ärzte beschäftigten sich ausschliesslich mit<br />

dem Bereich der «Seelenheilk<strong>und</strong>e». Im Vergleich zu Frankreich, wo sich die <strong>Psychiatrie</strong> als selbständige<br />

Fachdisziplin bereits in den 1790er Jahren etablieren konnte <strong>und</strong> mit dem Irrengesetz von 1838 ihre defi-<br />

nitive Anerkennung durch den Staat fand 178, verlief die Disziplinenbildung der deutschen <strong>Psychiatrie</strong> lang-<br />

wieriger. Abgeschlossen wurde dieser Spezialisierungsprozess erst zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts mit der<br />

Approbationsordnung von 1901, welche die <strong>Psychiatrie</strong> zum Pflicht- <strong>und</strong> Prüfungsfach innerhalb des<br />

Medizinstudiums machte. 179 Auch in der Schweiz entstand eine eigenständige <strong>Psychiatrie</strong> erst in der zwei-<br />

ten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Sowohl in Deutschland, als auch in der Schweiz stellten die Errichtung<br />

spezieller Irrenanstalten, die Gründung psychiatrischer Standesorganisationen sowie die Verankerung der<br />

<strong>Psychiatrie</strong> im universitären Lehrbetrieb entscheidende Etappen bei der Herausbildung einer eigenständi-<br />

gen psychiatrischen Disziplin dar. 180<br />

Mit der allmählichen Institutionalisierung der «Seelenheilk<strong>und</strong>e» wurde auch der Typus des «psychischen<br />

Arzts» geprägt. Auch wenn dessen berufliches Profil je nach theoretischem Standpunkt unterschiedlich<br />

aussah, waren sich die deutschen Ärzte doch einig, dass zur Erkennung <strong>und</strong> Behandlung von Geistesstö-<br />

rungen ein besonderes Wissen erforderlich war. Gerade der Kompetenzanspruch der «Seelenärzte», über<br />

«zweifelhafte Gemütszustände» vor Gericht zu befinden, stellte ein einigendes Band zwischen den in kon-<br />

zeptueller Hinsicht zerstrittenen Schulen der deutschen <strong>Psychiatrie</strong> dar. 181 Sowohl «Somatiker» wie der<br />

erwähnte Friedreich, die Geisteskrankheiten primär auf organische Störungen zurückführten, als auch<br />

«Psychiker» wie Johann Christian August Heinroth (1773–1843), der Geistesstörungen als Folge eines<br />

unvernünftig-sündigen Lebenswandels betrachtete, verteidigten die Ansprüche der Ärzte gegenüber Juris-<br />

ten <strong>und</strong> Psychologen. 182 Heinroth verband beispielsweise in seinem System der psychisch-gerichtlichen Medizin<br />

von 1825 den ärztlichen Deutungsanspruch mit der Betonung des «psychischen» Charakters zweifelhafter<br />

Geisteszustände: «Das Vorhandensein dieser Zustände, sie mögen nun organisch-psychischer oder psy-<br />

chisch-organischer Natur seyn, in staatsbürgerlicher Hinsicht auszumitteln, ist jederzeit Sache des Arztes,<br />

nicht wiefern er Arzt überhaupt, sondern wiefern er psychischer Arzt ist.» 183 Es sollte indes bis um die<br />

Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts dauern, bis im deutschen Sprachraum der Typus des «psychischen Arztes» mit<br />

dem Berufsbild des «Anstaltspsychiaters» verschmolz. 184 Von dieser im Vergleich zu Frankreich verspäte-<br />

ten Hinwendung zur psychiatrischen Praxis war ebenfalls die Gerichtspsychiatrie betroffen. So nannte die<br />

preussische Criminalordung von 1805 noch an erster Stelle die Amtsärzte als potenzielle Sachverständige für<br />

die Beurteilung zweifelhafter Gemütszustände. Auch in Württemberg übertrug 1823 ein Reskript die ge-<br />

richtlichen Gutachtertätigkeit der medizinischen Fakultät von Tübingen <strong>und</strong> nicht etwa den Ärzten der<br />

1812 gegründeten Anstalt Zwiefalten. 185 Erst mit dem breiten Durchsetzen der «Anstaltspsychiatrie» sowie<br />

der Einrichtung von psychiatrischen Universitätskliniken in der zweiten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte wurden Begut-<br />

178 Vgl. Goldstein, 1987, 64-119, 276-321.<br />

179 Eulner, 1970, 261. In Bayern wurde die <strong>Psychiatrie</strong> bereits 1858 in der Schweiz 1887 als medizinisches Examensfach anerkannt.<br />

180 Vgl. Chmielewski, 1999; Kaufmann, 1995, 111-193; Dörner, 1995, 185-262; Blasius, 1994, 15-40; Schindler, 1990, 10-27; Eulner,<br />

1970, 257-281. Zur Entstehung der <strong>Psychiatrie</strong> in der Schweiz: Kp. 4-5.<br />

181 Kaufmann, 1995, 323.<br />

182 Zur zeitgenössische Unterscheidung zwischen «Somatikern» <strong>und</strong> «Psychikern» in der deutschen <strong>Psychiatrie</strong>: Dörner, 1995, 262-<br />

279; Ackerknecht, 1985, 59-62. In jüngster Zeit ist verschiedentlich auf die Fragwürdigkeit dieser Unterscheidung hingewiesen<br />

worden: Benzenhöfer, 1993, 14, 72-74; Cauwenbergh, 1990; Marx, 1990/91; Trenckmann, 1988.<br />

183 Heinroth, 1825, 135.<br />

184 Vgl. Chmielewski, 1999.<br />

185 Kaufmann, 1995, 327, 146, 180-184.<br />

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