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Psychiatrie und Strafjustiz

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minderten Widerstandskraft» liess sich auf beide Geschlechtern gleichermassen übertragen. 996 Wie im<br />

nächsten Unterkapitel gezeigt wird, überlagerten sich allerdings gerade im Bereich der Sexualität häufig<br />

ältere Krankheitskonzepte mit dem Psychopathiekonzept. Was hier dagegen im Vordergr<strong>und</strong> steht ist das<br />

Potenzial des Psychopathiekonzepts, Abweichungen von hegemonialen Vorstellungen über die Ge-<br />

schlechterrollen psychiatrisch zu erfassen <strong>und</strong> dadurch geschlechtsspezifische Devianz zu medikalisieren.<br />

Unter ähnlichen Umständen wie Lisa H. versuchte Luise W. im Juli 1908 ihre drei Kinder <strong>und</strong> sich selbst<br />

umzubringen. Während ein Kind bei einem ersten Vergiftungsversuch starb, konnten die beiden andern<br />

Kinder <strong>und</strong> die Mutter. beim Versuch, ins Wasser zu gehen, gerettet werden. Als Motiv für ihre Tat gab<br />

Luise W. an, sie sei von ihrem Mann <strong>und</strong> ihren Verwandten beschimpft <strong>und</strong> geplagt worden. Schliesslich<br />

habe sie der Mann ganz verlassen wollen. Aus Verzweiflung über die ungenügenden Mittel zum Leben<br />

habe sie beschlossen, die Kinder zu töten <strong>und</strong> Selbstmord zu begehen. Die mit der Begutachtung beauf-<br />

tragten Psychiater aus Münsingen stellten bei Luise W. einen «ethischen Defekt» sowie einen «ausgespro-<br />

chenen Verfolgungswahn» fest. Eine wichtige Rolle für diese Schlussfolgerungen spielte die Art <strong>und</strong> Wei-<br />

se, wie Luise W. in der Vergangenheit ihre Pflichten als Hausfrau <strong>und</strong> Mutter wahrgenommen hatte. Nach<br />

ihrer Heirat mit dem Schneider Gottlieb W. aus Biel hatte sie ihre Stelle als Magd aufgegeben <strong>und</strong> war<br />

seither ausschliesslich als Hausfrau tätig. Gemäss einem den Sachverständigen zugestellten Bericht eines<br />

Landjägers entsprach ihre Haushaltsführung keineswegs den bürgerlichen Sauberkeits- <strong>und</strong> Reinlichkeits-<br />

normen: «Was den Punkt der Ordnungsliebe <strong>und</strong> die Besorgung ihrer Kinder anbetrifft, liess sie [Luise<br />

W.] ungemein zu wünschen übrig, indem sie die Haushaltung gänzlich vernachlässigte; alles stank nach<br />

Kot <strong>und</strong> Ungeziefer.» Der gleiche Landjäger machte Luise W. auch für die Scheidungsabsichten des Ehe-<br />

manns verantwortlich: «Das Verhältnis zu ihrem Mann war kein einnehmendes, sondern ein stets ge-<br />

spanntes. Sie lebte mit ihrem Manne meist auf Kriegsfuss. Da die Frau W. in ihrer Haushaltung keine<br />

Ordnung hielt, die Kinder unbesorgt liess, <strong>und</strong> weil sie sich oft betrank, sah sich der Mann genötigt, aus<br />

diesen Gründen die Scheidungsklage einzureichen [...]». 997<br />

In den Augen des Polizisten verstiess Luise W. durch ihre mangelhafte Haushaltsführung, die Vernachläs-<br />

sigung der Kinder, der Auflehnung gegen ihren Mann <strong>und</strong> den Alkoholgenuss gleich in vierfacher Hin-<br />

sicht gegen das Ideal der bürgerlichen Hausfrau <strong>und</strong> Mutter, wie es von unzähligen Lexika <strong>und</strong> Beleh-<br />

rungsschriften propagiert wurde. 998 Bereits der Polizeibericht mass Luise W. damit an Normen, die sich<br />

direkt aus der Ausformulierung <strong>und</strong> Kodifizierung eines «weiblichen Geschlechtscharakters» im 19. Jahr-<br />

h<strong>und</strong>ert ableiten liessen. So hiess es etwa in der Ausgabe des Brockhaus von 1898 über die Rolle <strong>und</strong> Pflich-<br />

ten der Frau: «Die Rolle, welche der Frau im Unterschiede vom Manne im Geschlechtsleben von der Na-<br />

tur angewiesen ist, macht eine völlige Gleichstellung der Geschlechter für alle Zeiten unmöglich. Sie weist<br />

ihr als erste <strong>und</strong> vornehmste Aufgabe die Ernährung, Pflege <strong>und</strong> Erziehung der Kinder zu [...]. In diesem<br />

natürlichen weiblichen Pflichtenkreis wurzelt das Familienleben, dessen Hauptträger das weibliche Geschlecht<br />

ist <strong>und</strong> bleiben wird. Hiermit verbindet sich die Verwaltung des Hauswesens, die ökonomische<br />

Verwendung des vom Manne Erworbenen.» 999 Am Ideal einer ordentlichen <strong>und</strong> sparsamen Haushaltsfüh-<br />

rung orientierten sich im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts auch die Bemühungen bürgerlicher Fürsorge-<br />

rinnen (<strong>und</strong> Fürsorger), entsprechende Normen <strong>und</strong> Standards an Unterschichtfrauen <strong>und</strong> -familien zu<br />

996 Vgl. zur Pathologisierung abweichenden (Geschlechter-)Rollenverhaltens: Germann, 1999, 121-123; Brändli, 1998, 75, 87-90;<br />

Ryter, 1996, 359.<br />

997 StAB BB 15.4, Band 1856, Dossier 621, Schreiben des Landjägers J. von Biel, 12. August 1908.<br />

998 Zum Verstoss von Frauen gegen die Norm einer reinlichen <strong>und</strong> sparsamen Haushaltsführung im Zusammenhang mit Scheidungsprozessen:<br />

Arni, 1999. Zum Ideal der Sauberkeit <strong>und</strong> Reinlichkeit im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert: Frey, 1997.<br />

999 Brockhaus' Konversationslexikon, 14. Auflage, Band 7, Leipzig 1898, 228, 235f.; zitiert: Frevert, 1995, 38.<br />

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