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Psychiatrie und Strafjustiz

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Schweizer Juristenschaft verlief. Im Vergleich zu «Grenzdisputen» der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

lässt sich sowohl seitens der Juristen, als auch seitens der Psychiater eine deutliche Modifikation der Kon-<br />

fliktmuster feststellen. Meyer von Schauensees Kritik an den Medikalisierungsbestrebungen der Psychiater<br />

wurde denn auch nicht von allen Schweizer Juristen geteilt. So lobte etwa der Berner Strafrechtler Grete-<br />

ner, der ansonsten einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens eher skeptisch gegenüber stand, in der<br />

ersten Ausgabe der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht ein Gutachten der Waldau über einen Soldaten, der<br />

im Militärdienst ohne Anlass um sich geschossen <strong>und</strong> mehrere Kameraden getötet hatte. Unter Verweis<br />

auf das ebenfalls in der Zeitschrift publizierte Gutachten sowie das einschlägige gerichtspsychiatrische<br />

Lehrbuch Krafft-Ebings konzedierte Gretener, dass psychiatrische Deutungsmuster in einzelnen Fällen<br />

erheblich zur Erklärung des Verhaltens des Angeklagten beizutragen vermögen. Gleichzeitig gab er sich<br />

überzeugt, dass die Zusammenarbeit zwischen Juristen <strong>und</strong> Psychiatern strikte in den vom Strafrecht ge-<br />

setzten Bedingungen abzulaufen hätte. Sofern der Primat des juristischen Bezugssystems gewahrt blieb,<br />

hatte Gretener somit nichts gegen eine intensive Zusammenarbeit der beiden Disziplinen einzuwenden.<br />

Er sprach sich sogar für die Aufnahme einer zeitgemässen Definition der strafrechtlichen Verantwortlich-<br />

keit <strong>und</strong> der verminderten Zurechnungsfähigkeit in ein künftiges Strafgesetzbuch aus. Dennoch rechtfer-<br />

tigte er das harte Urteil des Militärgerichts im vorliegenden Fall, das aufgr<strong>und</strong> des geltenden Militärstrafge-<br />

setzbuchs von 1851 korrekt gefällt worden sei. 474 Insgesamt dokumentiert Greteners Beitrag ein deutlich<br />

entspannteres Verhältnis gegenüber der <strong>Psychiatrie</strong>, als dies im Fall von Meyer von Schauensees Polemik<br />

der Fall war.<br />

Noch deutlicher als Gretener setzte sich 1891 der Strafrechtsreformer Gautier für die Anerkennung psy-<br />

chiatrischer Gutachten ein, indem er einen von der Waadtländer Justiz beurteilten Fall zum Justizskandal<br />

stilisierte. Gegenstand der «Affaire Blanc» war der 1890 in Moudon wegen dreifachen Kindermordes an-<br />

geklagte François Blanc. Obwohl der Verteidiger <strong>und</strong> der Staatsanwalt die Schlüsse des auf vollständige<br />

Unzurechnungsfähigkeit lautenden psychiatrischen Gutachtens teilten, verurteilte das Geschworenenge-<br />

richt Blanc zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe <strong>und</strong> billigte ihm keinerlei mildernde Umstände zu.<br />

Die Tatsache, dass sich die Laienrichter kurzerhand über die von den beteiligten Ärzten <strong>und</strong> Berufsjuris-<br />

ten vertretene Auffassung hinweggesetzt hatten, verhalf dem Fall zu einer gewissen Notorietät unter den<br />

Schweizer Strafrechtsreformern. So forderte Stooss nach dem Urteil beim zuständigen Staatsanwalt die<br />

Prozessakten zur Einsicht an. 475 Gautier veröffentlichte in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht einen<br />

Beitrag, in dem er die Problematik des Falls auf die Diskrepanz zwischen Experten- <strong>und</strong> Laienurteil zu-<br />

spitzte: «Le jury de Moudon a condamné un aliéné, voilà ce qui paraît alors hors de doute; le jury [...] est<br />

resté plus que le public lui-même réfractaire aux dépositions des hommes de science. Peut-être ne faut-il<br />

pas trop s’en montrer surpris; ce n’est ni la première ni la dernière fois que nous voyons le jury faire de<br />

l’indépendance vis-à-vis de ceux qui veulent l’éclairer, et s’ériger en représentant de l’opinion publique<br />

dans le sens le plus contestable de ces mots.» 476 Was der Jurist Gautier präsentierte, war eine Konstellati-<br />

on, deren Konfliktlinien nicht mehr – wie noch bei Meyer von Schauensee – zwischen Psychiatern <strong>und</strong><br />

Juristen, sondern zwischen akademisch gebildeten Experten beider Disziplinen <strong>und</strong> medizinischen <strong>und</strong><br />

juristischen Laien verliefen. Die Intensivierung der Zusammenarbeit von <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> er-<br />

schien hier als Bestandteil eines Lernprozesses, der, gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse, zu einer<br />

Überwindung «refraktärer» Vorurteile <strong>und</strong> zur Verbesserung des Justizsystems führen sollte.<br />

474 Gretener, 1888; Speyr/Schärer, 1888. Die Untersuchungsakten zu diesem Fall befinden sich in BAR E 27 (-), Band 9025 (91).<br />

475 Vgl. Barras/Gasser, 1996.<br />

476 Gautier, 1891, 50.<br />

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