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Psychiatrie und Strafjustiz

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angeklagten BürgerInnen. Ärzte <strong>und</strong> Psychiater hatten sich darüber auszusprechen, welche Rolle «Seelen-<br />

krankheiten» <strong>und</strong> «Abnormitäten» bei Verstössen gegen Normen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>sätze spielten. Sie hatten<br />

Grenzen zwischen «normalen» <strong>und</strong> «abnormen» Verhaltensabweichungen zu ziehen. Das folgende Fazit<br />

fokussiert deshalb zunächst auf die in solche Medikalisierungsprozesse involvierten institutionellen Mechanis-<br />

men <strong>und</strong> AkteurInnen. Anschliessend wird auf die Funktionen <strong>und</strong> normativen Bezüge psychiatrischer Deutungsmuster<br />

eingegangen.<br />

Medikalisierung kriminellen Verhaltens: Soziale Räume, institutionelle Mechanismen, AkteurIn-<br />

nen <strong>und</strong> Alltagswissen<br />

Die forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern beruhte im Untersuchungszeitraum auf einem recht-<br />

lichen Dispositiv, das die Liberalen <strong>und</strong> Radikalen seit den 1840er Jahren sukzessive erlassen hatten.<br />

Wenngleich die Berner Strafgesetzgebung damit auf dem bürgerlichen Gr<strong>und</strong>satz der Gleichheit aller Bür-<br />

gerInnen aufbaute, prägten soziale Ungleichheiten dennoch stark die Justizpraxis. 1099 Dies zeigt sich eben-<br />

falls an den untersuchten Begutachtungsfällen. So überwies die bürgerliche <strong>Strafjustiz</strong> in erster Linie An-<br />

gehörige der Unterschichten zur psychiatrischen Begutachtung. Die Hälfte der analysierten Gutachten<br />

betrafen Angehörige der ländlichen, gut zwanzig Prozent Angehörige der städtischen Unterschichten.<br />

R<strong>und</strong> ein Viertel der ExplorandInnen lassen sich der Mittelschicht zuordnen. Lediglich drei der 78 Explo-<br />

randInnen aus dem Sample waren Angehörige des Bürgertums <strong>und</strong> der freien Berufe. 1100 Zu einem ähnli-<br />

chen Schluss kam ein Zürcher Psychiater in einer Untersuchung über die strafrechtlichen Gutachten des<br />

Burghölzli: «[Es] sei nur bemerkt, dass die Mehrzahl unserer Begutachteten arme Leute waren, mittellose<br />

Taglöhner, Dienstmädchen usw., so dass man durchaus nicht den Eindruck gewinnt, dass es sich um ein<br />

Klassenprivileg handelt.» 1101 Die forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern reproduzierte damit<br />

weitgehend die soziale Schichtung <strong>und</strong> Ungleichheit der schweizerischen Gesellschaft vor dem Ersten<br />

Weltkrieg. 1102 Auffallend ist im Kanton Bern der hohe Anteil an Angehörigen der ländlichen Unterschich-<br />

ten, die ins Visier der psychiatrischen Sachverständigen gerieten. Die stark ländliche Prägung des Kantons<br />

schlug sich demnach auch auf die Begutachtungspraxis durch. Fälle wie diejenigen von Jakob R. <strong>und</strong><br />

Christian B. zeigen, wie sich die <strong>Psychiatrie</strong>ärzte mit spezifischen Abhängigkeitsverhältnissen <strong>und</strong> Bezie-<br />

hungsnetzen eines ländlichen Umfelds konfrontiert sahen. Der staatliche Strafanspruch, aber auch<br />

psychiatrische Krankheits- <strong>und</strong> Normalitätskonzepte trafen in solchen Fällen häufig auf ein komplexes<br />

Geflecht aus ungeschriebenen Normen, Toleranzschwellen <strong>und</strong> Alltagswahrnehmungen. Da im<br />

Untersuchungsraum alle Sachverständigen männlichen Geschlechts waren widerspiegelt die<br />

Begutachtungspraxis ebenfalls die bürgerliche Geschlechterordnung. Die Prüfung des Schulwissens der<br />

ExplorandInnen durch die Berner Psychiater, wie sie in Kapitel 7.3 analysiert worden ist, verdeutlicht<br />

beispielhaft, dass sich bei den meisten Begutachtungen Ärzte <strong>und</strong> ExplorandInnen gegenüber standen, die<br />

über einen unterschiedlichen soziokulturellen Hintergr<strong>und</strong> verfügten <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer sozialen Stellung<br />

einem unterschiedlichen Lebenswandel verpflichtet waren. In diesem Sinn bedeutete weniger das<br />

Begutachtetwerden, als das Begutachten ein «Klassenprivileg» (Johann Manser), das bürgerlichen Männern<br />

vorbehalten blieb.<br />

1099 Vgl. Ludi, 1999, 410-425.<br />

1100 Die Verteilung der ExplorandInnen auf dieses Dreischichtmodell erfolgt aufgr<strong>und</strong> des Berufes. Zusätzlich wurde zwischen<br />

städtischem <strong>und</strong> ländlichem Lebensumfeld differenziert. Zum Bürgertum gezählt wurden führende Angestellte (2) <strong>und</strong> Angehörige<br />

der freien Berufe (1). Der Mittelschicht zugerechnet wurden selbständige Bauern (4), selbständige Handwerker, Wirte <strong>und</strong><br />

Privatiers (6), Angestellte (7), Lehrer (1). Zur Unterschicht gehören namentlich: Taglöhner <strong>und</strong> Knechte (20), unselbständige<br />

Handwerker (20), Dienstboten (2), Arbeiter <strong>und</strong> Arbeiterinnen (6), Diverse (2). Im Haus tätige Frauen wurden aufgr<strong>und</strong> der<br />

Angaben über den Beruf des Ehemanns, respektive über den Lebensstandard der Familie eingeteilt (7).<br />

1101 Manser, 1932, 14.<br />

1102 Tanner, 1995, 52, kommt aufgr<strong>und</strong> der Volkszählung von 1910 für die Schweiz zu folgender sozialen Schichtung: Bürgertum:<br />

6%; Mittelstand: 33,7%; Unterschichten: 70,3%.<br />

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