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Psychiatrie und Strafjustiz

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schloss sich die Kriminalkammer der Meinung der psychiatrischen Sachverständigen an: «Die Kriminal-<br />

kammer hält W. mit den psychiatrischen Experten [...] in Anbetracht seiner fortgesetzten Handlungsweise<br />

<strong>und</strong> nicht zum wenigsten auch gerade wegen seines Schwachsinns für einen gemeingefährlichen Men-<br />

schen, vor dem die Kinder behütet werden müssen.» An dieser Stelle unterzogen die Berufsrichter den<br />

Entscheid des Regierungsrats im Fall von Eugen L. einer formal-juristischen Kritik, ohne jedoch dessen<br />

Zweckmässigkeit gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage zu stellen: «Zwar darf [in diesem Fall] wohl kaum von Art. 47 Al.<br />

1 StGB Gebrauch gemacht werden, da das hier vorgesehene Verbringen eines Delinquenten in ‹angemes-<br />

sene Enthaltungs- oder Irrenanstalten› zu Sicherungszwecken nur gegenüber Personen erlaubt ist, die<br />

wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit ‹von Strafe befreit› worden sind; d.h. diese Spezialenthaltung [...]<br />

darf nur an Stelle einer Strafe, nicht neben eine Strafe treten, wie sie bei bloss vermindert Zurechnungsfähi-<br />

gen ausgesprochen werden muss. Freilich kann auch ein bloss teilweise Unzurechnungsfähiger gemeinge-<br />

fährlich sein, wie das der vorliegende Fall beweist.» 1174<br />

Wohl ohne sich dessen bewusst zu sein, nahm hier die Kriminalkammer die Argumente gegen eine Ku-<br />

mulation von Strafe <strong>und</strong> Massnahme, die Ernst S. in seiner Eingabe von 1904 vorgebracht hatte, wieder<br />

auf. Um das Dilemma zwischen ihren rechtlichen Bedenken <strong>und</strong> der konstatierten Zweckmässigkeit si-<br />

chernder Massnahmen aufzulösen, verzichtete die Kriminalkammer auf einen formellen Antrag <strong>und</strong> be-<br />

gnügte sich mit einer blossen Aktenüberweisung an den Regierungsrat, nicht ohne darauf hinzuweisen,<br />

dass sie Sicherungsmassnahmen auf dem gewöhnlichen administrativen Wege denkbar <strong>und</strong> wünschbar»<br />

erachtete. 1175 Damit umging sie geschickt eine Stellungnahme zur Ausweitung der sichernden Massnah-<br />

men <strong>und</strong> überwies die heikle Frage zur Entscheidung an die Regierung. Mit dem Hinweis auf den «ge-<br />

wöhnlichen administrativen Weges» stellte sie die Bestimmung des Artikel zugleich in die Kontext der<br />

bestehenden administrativen Massnahmen. Der Regierungsrat seinerseits liess sich durch die Kritik der<br />

Kriminalkammer nicht vom Verhängen von sichernden Massnahmen gegen Fritz W. abhalten <strong>und</strong> bestä-<br />

tigte die Praxisänderung. 1176 Auch im Fall des vermindert zurechnungsfähigen Gottfried A., der wegen<br />

Totschlags vom Geschworenengericht Bern zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt <strong>und</strong> von den psychiatri-<br />

schen Experten der Anstalt Münsingen als «neuropathisch» <strong>und</strong> «moralisch <strong>und</strong> seelisch hochgradig ver-<br />

kommen» begutachtet worden war, erachtete die Kriminalkammer die Anwendung von Artikel 47 zwar als<br />

juristisch fragwürdig, anerkannte aber die «praktischen Erwägungen», durch die sich der Regierungsrat<br />

leiten lasse Auch in diesem Fall verzichtete die Kriminalkammer auf ein «formelles Gesuch» <strong>und</strong> beharrte<br />

auf einer formalen Trennung zwischen richterlichen <strong>und</strong> administrativen Zuständigkeiten. 1177 Auch gegen<br />

Gottfried A. beschloss der Regierungsrat daraufhin die Verhängung von sichernden Massnahmen. 1178<br />

Der Fall von Gottfried A. ist auch deshalb aufschlussreich, weil hier die psychiatrischen Gutachter explizit<br />

auf die beiden vorausgegangenen Beschlüsse des Regierungsrats Bezug nahmen. Aus verständlichen<br />

Gründen verfolgten die Berner Psychiater die Praxis der sichernden Massnahmen mit grossem Interesse.<br />

1909 begrüsste von Speyr in seinem Referat vor dem Berner Hilfsverein für Geisteskranke die Praxisänderung<br />

des Regierungsrates: «Ich bin wie gesagt ganz einverstanden, dass die vermindert Zurechnungsfähigen u.<br />

U. dauernd versorgt werden, aber ich halte es nicht für richtig, dass sie zuerst wie die wahren Verbrecher<br />

bestraft <strong>und</strong> nachher wie die wahren Geisteskranken in Irrenanstalten versorgt werden <strong>und</strong> zwar u. U. für<br />

1174 StAB BB 15.4, Band 104, Verhandlung vom 2. März 1908, Hervorhebungen im Original. Vgl. StAB BB 15.4, Band 1842,<br />

Dossier 547, Ärztliches Gutachten über Fritz W., 15. November 1907.<br />

1175 StAB BB 15.4, Band 104, Verhandlung vom 2. März 1908.<br />

1176 StAB A II, Band 1470, RRB 1914.<br />

1177 StAB BB 15.4, Band 105, Verhandlung vom 7. Juli 1908; StAB BB 15.4, Band 1848, Dossier 582 Psychiatrisches Gutachten<br />

über Gottfried A., 1. Mai 1908.<br />

1178 StAB A II, Band 1470, RRB 3982.<br />

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