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Psychiatrie und Strafjustiz

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umgebracht, Frau <strong>und</strong> Kind deshalb beseitigt, damit sie nicht, wie ihm geschehen sei, verachtet <strong>und</strong> ver-<br />

stossen seien. [...] Der Gedanke, dass das väterliche Heimwesen nicht, wie es sonst Brauch ist, ihm dem<br />

Jüngsten zufalle, gab seinen finsteren Gedanken neue Nahrung. Jahrelang muss er Gedanken der Rache<br />

ausgebrütet haben, ehe das Grässliche geschah. Das sind so einige Gedanken, an denen man aus dem<br />

psychologischen Labyrinth den Ausgang zu finden hofft.» 855 Schenkt man der Berichterstattung Glauben,<br />

so rief das Auslöschen einer ganzen Familie in der Öffentlichkeit Erschrecken <strong>und</strong> Unverständnis hervor.<br />

Die Grausamkeit der Tat durchbrach die tägliche Routine <strong>und</strong> stellte die Bevölkerung vor die Frage, wes-<br />

halb ein Mann aus ihrer Mitte eine solche Handlung begehen konnte. Bereits kurz nach dem Bekanntwerden<br />

der Tat kursierten denn auch unterschiedliche «Erzählungen» der Mordtat. So war die Rede von der<br />

Tat eines «Wahnsinnigen» oder man führte den vierfachen Mord auf einen Racheakt zurück. Solche Er-<br />

zählungen markierten Orientierungspunkte im «psychologischen Labyrinth» <strong>und</strong> stellten erste Interpreta-<br />

tion des Ereignisses zur Verfügung. Sie machten den anfänglichen Schrecken zu etwas Denk- <strong>und</strong> Sagba-<br />

rem. Die Berichterstattung des B<strong>und</strong> zeigt, dass die «Bluttat von Äckenmatt» einen kollektiven Bedarf an<br />

Sinngebung hervorrief, der weit über die justizielle Bewältigung des Mordes hinausging. Zum Ausdruck<br />

kam dieser Sinnbedarf ebenfalls in der Berichterstattung über den Ende Dezember 1900 stattfindenden<br />

Strafprozess gegen Binggeli. So hiess es im B<strong>und</strong>: «Ein dunkles Rätsel der menschlichen Natur beschäftigt<br />

seit vorgestern das bernische Schwurgericht im neuen Amtshaus: der Fall Binggeli.» 856 Die Zeitung liess<br />

ihr Lesepublikum in der Folge Zug um Zug am Versuch der Justiz teilhaben, den «Fall Binggeli» einer<br />

Lösung zuzuführen. Die Leserinnen <strong>und</strong> Leser wurden aber vor allem über die in den Augen der Redakto-<br />

ren entscheidende Frage auf dem Laufenden gehalten: war Binggeli «wahnsinnig» oder nicht?<br />

Im Gegensatz zur Presse beschäftigten sich die Berner Justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> von Amts wegen mit den<br />

Motiven <strong>und</strong> dem Geisteszustand des Angeschuldigten. Bereits kurz nach der Tat vermerkte der zuständi-<br />

ge Landjäger in den Akten: «Mörder Binggeli soll zeitweise geistesgestört sein <strong>und</strong> soll mit seiner Mutter<br />

<strong>und</strong> Verwandten schon lange nicht mehr auf gutem Fuss gestanden sein.» 857 Der Umstand, dass Binggeli<br />

tatsächlich bereits drei Mal in der Waldau versorgt gewesen war, machte dem Untersuchungsrichter von<br />

Schwarzenburg die Entscheidung leicht, den Angeschuldigten psychiatrisch begutachten zu lassen. Dies<br />

um so mehr, als sich bei Binggeli im Laufe der Untersuchung «vereinzelte Anzeichen geistiger Abnormi-<br />

tät» gezeigt hätten. In seinem Beschluss beauftrage der er den Direktor der Irrenanstalt Münsingen, Georg<br />

Glaser, <strong>und</strong> dessen Assistent mit der Beantwortung der beiden Fragen: «1. Ist Binggeli anhaltend<br />

wahnsinnig oder geisteskrank? 2. Hat sich derselbe zur Zeit der Tat vorübergehend in einem unverschul-<br />

deten Zustand bef<strong>und</strong>en, in dem er sich seiner Handlung oder der Strafbarkeit derselben nicht bewusst<br />

war?» 858 Am 18. Juni 1900, r<strong>und</strong> sechs Wochen nach der Tat, wurde Binggeli aus der Untersuchungshaft in<br />

die Irrenanstalt Münsingen versetzt. Mit der Anordnung einer Begutachtung bezweckte der Untersu-<br />

chungsrichter vordergründig zwar eine Beurteilung der juristischen Frage der Zurechnungsfähigkeit. Vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> der um sich greifenden Spekulationen um die Tat bekam der Begutachtungsauftrag aber<br />

zugleich die Funktion, «das dunkle Rätsel der menschlichen Natur» mit wissenschaftlicher Autorität aus-<br />

zudeuten. Für die Psychiater bedeutete dies, dass sie einen weit über Rechtsfragen hinaus gehenden Sinn-<br />

bedarf zu befriedigen hatten.<br />

855 Der B<strong>und</strong>, 9./10. Mai 1900.<br />

856 Der B<strong>und</strong>, 23. Dezember 1900.<br />

857 StAB BB 15.4, Band 1717, Dossier 9458, Rapport an den Regierungsstatthalter Schwarzenburg, 5. Mai 1900.<br />

858 StAB BB 15.4, Band 1717, Dossier 9458, Beschluss des Untersuchungsrichters von Schwarzenburg, 15. Juni 1900; Glaser,<br />

1901, 326.<br />

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