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Psychiatrie und Strafjustiz

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fiel der Frauenanteil bei der erwähnten frühen Untersuchung aus dem Burghölzli aus (1881–1895: 22,5%).<br />

Zwischen 1905 <strong>und</strong> 1929 betrug der Anteil der Frauen an den in Zürich begutachteten Personen dagegen<br />

18,1%. In Königsfelden wurden zwischen 1902 <strong>und</strong> 1920 r<strong>und</strong> 15,7% Frauen begutachtet. 721 Aufgr<strong>und</strong><br />

des Datenmaterials kann von einem Frauenanteil bei strafrechtlichen Begutachtungen von knapp 20%<br />

ausgegangen werden. Damit stellt sich die Frage, ob delinquente Frauen vergleichsweise häufiger als delin-<br />

quente Männer psychiatrisch begutachtet wurden. Hinweise darauf ergibt ein Vergleich mit der zeitgenös-<br />

sischen Kriminalstatistik. Durchgehende <strong>und</strong> detaillierte Angaben zur geschlechtsspezifischen Kriminali-<br />

tätsverteilung im Kanton Bern liegen für den Untersuchungszeitraum allerdings nicht vor. Eine auf die<br />

Urteile der Berner Geschworenengerichte zwischen 1901 <strong>und</strong> 1905 beschränkte Statistik weist einen Frau-<br />

enanteil von 12,6% an den angeklagten Personen aus. 722 Eine umfassende Kriminalstatistik für den Kan-<br />

ton Bern liegt dagegen erst für die Jahre 1924–1929 vor. Darin wird der Frauenanteil unter den angeklag-<br />

ten Personen auf 10,8 % beziffert. 723 Die schweizerische Kriminalstatistik von 1906, die Verbrechen <strong>und</strong><br />

Vergehen in allen Kantonen erfasste, berechnete den Anteil der Frauen an den verfolgten Delikten auf<br />

13,5%. 724 Wenngleich diese Angaben nur bedingt aussagekräftig sind, so lässt sich daraus doch ableiten,<br />

dass straffällige Frauen etwas häufiger psychiatrisch begutachtet wurden als delinquente Männer. Die Jus-<br />

tizbehörden warfen demnach bei Straftäterinnen vergleichsweise häufiger Fragen nach dem Geisteszu-<br />

stand, nach Norm <strong>und</strong> Abweichung auf. Dies widerspiegelt den Umstand, dass die bürgerliche Gesell-<br />

schaft Kriminalität vor allem als Männerphänomen wahrnahm. Straffällige Frauen wurden dadurch zu<br />

potenziellen «Ausnahmenfälle», die nicht nur die Rechts-, sondern auch die bürgerliche Geschlechterord-<br />

nung in Frage stellten <strong>und</strong> dadurch stärker als Männer Fragen nach ihrer «Normalität» aufwarfen. 725<br />

Um die festgestellte Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis definitiv einschätzen zu können,<br />

sind zwei zusätzliche Überlegungen anzustellen. Zum einen gilt es die Frage zu prüfen, ob die Zunahme<br />

der Gutachtenzahlen nicht lediglich als Folge der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung zu betrachten ist.<br />

Zum andern ist die mögliche Erklärung zu diskutieren, wonach die Zunahme der Begutachtungstätigkeit<br />

der Psychiater nicht die Folge einer absoluten Ausweitung des medizinischen Deutungsrahmens, sondern<br />

lediglich die eines Spezialisierungsprozesses innerhalb der Medizin gewesen sein könnte.<br />

Zwischen 1886 <strong>und</strong> dem Beginn des Ersten Weltkriegs nahm die Anzahl der im Kanton Bern angeklagten<br />

Personen tendenziell ab. Zwischen 1886 <strong>und</strong> 1890 wurden jährlich durchschnittlich 5718 Personen wegen<br />

Verbrechen <strong>und</strong> Vergehen angeklagt. 1896–1890 waren dies noch 4526. 1906–1910 stieg der jährliche<br />

Durchschnitt wieder auf 5193, um dann zwischen 1911 <strong>und</strong> 1915 auf 4972 Angeklagte pro Jahr zu sinken.<br />

In den letzten fünf Jahren des Untersuchungszeitraums stieg die Zahl der angeklagten Personen markant<br />

auf durchschnittlich 6260 pro Jahr an. Dieser Anstieg dürfte zu einem guten Teil die materielle Knappheit<br />

<strong>und</strong> die sozialen Spannungen der Kriegsjahre widerspiegeln. Die Zahl der Angeklagten erreichte denn<br />

auch im Krisenjahr 1918 einen Höchststand <strong>und</strong> sank im folgenden Jahr wieder nahezu auf den Stand von<br />

1915. Eine ähnliche Entwicklung weist die Anzahl der vor den Geschworenengerichten angeklagten Per-<br />

sonen aus. Diese verringerte sich zwischen den Perioden 1886–1890 <strong>und</strong> 1911–1915 um r<strong>und</strong> 28%. Zwi-<br />

schen 1916 <strong>und</strong> 1920 nahm die Zahl der Angeklagten im Vergleich zur vorhergehenden Fünfjahresperiode<br />

721 Steiger, 1901; Kölle, 1896, 9; Manser, 1932, 8; Jb. Königsfelden, 1902–1920. Angaben zum Geschlecht der begutachteten<br />

Personen sind für Königsfelden erst ab 1902 durchgängig vorhanden.<br />

722 Kriminalstatistik des Kantons Bern, 1908, 74-75.<br />

723 Kriminalität im Kanton Bern, 1932, 34.<br />

724 Béguin, 1911, 1860f.<br />

725 Vgl. Regener, 1999, 264-278. Im Anschluss an Lombrosos <strong>und</strong> Ferreros Studie zur «Donna delinquente» beschäftigte sich ein<br />

Strang des kriminologischen Diskurses vornehmlich mit der «Natur» der «Verbrecherin» <strong>und</strong> reaktivierte dabei die weibliche<br />

«Sonderanthropologie» des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts unter veränderten Vorzeichen.<br />

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