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Psychiatrie und Strafjustiz

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eharrt hatte. 594 Erst nach der Verabschiedung der b<strong>und</strong>esrätlichen Botschaft verlangten die Irrenärzte<br />

erneut Nachbesserungen, diesmal hinsichtlich der Heilbehandlung von Trinkern. 595<br />

Die vergleichsweise zurückhaltende Beteiligung der Schweizer Irrenärzte an der Debatte um die sichern-<br />

den Massnahmen hatte indes einen weiteren Gr<strong>und</strong>. Spätestens seit der Jahrh<strong>und</strong>ertwende waren sich die<br />

Schweizer Psychiater im Klaren, dass eine Umsetzung des neuen Massnahmenrechts einschneidende Kon-<br />

sequenzen auf den Betrieb der Irrenanstalten haben würde. Wurde die «Behandlung der Verbrecher» wirk-<br />

lich zu einer «Abteilung der <strong>Psychiatrie</strong>», wie es Forel 1889 prophezeit hatte, so hiess dies, dass sich die<br />

psychiatrischen Institutionen mehr denn je mit der Problematik der Überfüllung <strong>und</strong> schwer zu versor-<br />

gender Patientengruppen auseinanderzusetzen haben würden. Wie in Kapitel 9 ausführlich dargestellt<br />

werden soll, waren sich die Schweizer Psychiater keineswegs einig, wie sie den institutionellen Herausfor-<br />

derungen, die mit dem künftigen Massnahmenrecht verb<strong>und</strong>en sein würden, begegnen wollten. Die Verla-<br />

gerung der Massnahmendebatte auf Fragen des Vollzugs sowie die im Zusammenhang mit dem Verwah-<br />

rungsproblem auftretenden disziplininternen Differenzen trugen auf jeden Fall wesentlich dazu bei, dass<br />

der kriminalpolitische Optimismus, mit dem die Irrenärzte 1893 eine Vereinheitlichung <strong>und</strong> Erweiterung<br />

des Massnahmenrechts gefordert hatten, einer zunehmenden Skepsis über die Möglichkeiten der Psychiat-<br />

rie, zur Bewältigung kriminellen Verhaltens beizutragen, Platz machte. Mit welchen Strategien die Schwei-<br />

zer Psychiater auf diese Ernüchterung reagierten, soll ebenfalls Gegenstand von Kapitel 9 sein.<br />

Sichernde Massnahmen jenseits des Strafrechts: Die Diskussionen um ein schweizerisches Irren-<br />

gesetz<br />

Parallel zu den im Rahmen der vorliegenden Untersuchung behandelten rechtspolitischen Interventionen<br />

beschäftigten sich die Schweizer Irrenärzten mit verschiedenen Entwürfen zu einem schweizerischen Ir-<br />

rengesetz. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, standen diese Bemühungen in enger Beziehung zu den<br />

kriminalpolitischen Vorstössen der Irrenärzte. Zum einen wollten einzelne Exponenten der Disziplin von<br />

der Gesetzgebungsdynamik profitieren, die zu Beginn der 1890er Jahre von der Strafrechtsreform ausging,<br />

um ihre standespolitischen Interessen ausserhalb der Strafrechts rechtlich absichern zu können. Zum andern<br />

erhofften sie sich von einem Irrengesetz eine Ergänzung zum neuen Massnahmenrecht. Da Patrick<br />

Schwengeler die Entstehung, die Diskussion <strong>und</strong> das Scheitern des Irrengesetzes bereits umfassend unter-<br />

sucht <strong>und</strong> gewürdigt hat, beschränken sich die folgenden Ausführungen im Wesentlichen auf die ange-<br />

sprochenen Verbindungen zwischen Straf- <strong>und</strong> Irrenrechtsreform. 596<br />

Auch bei den Bemühungen um ein Irrengesetz gingen wesentliche Anstösse vom Direktor des Burghölzli,<br />

Auguste Forel, aus. Bereits kurz nach seinem Antritt als Klinikdirektor im Jahre 1879 hatte Forel festgestellt:<br />

«Kurz gesagt, es fehlen uns Irrengesetze <strong>und</strong> eine wirksame Kontrolle, der ausserhalb der öffentli-<br />

chen Anstalten befindlichen Geisteskranken». 597 1891 griff der Verein schweizerischer Irrenärzte die Frage<br />

eines schweizerischen Irrengesetzes wieder auf <strong>und</strong> 1893 veröffentlichte Forel in der Schweizerischen Zeit-<br />

schrift für Strafrecht einen ersten Gesetzesentwurf, der in Anlehnung an das schottische Irrengesetz die Ein-<br />

setzung einer «Eidgenössischen Kommission für Geisteskranke <strong>und</strong> Geistesschwache» vorsah. Diese un-<br />

ter der Leitung von zwei Irrenärzten stehende Kommission sollte sowohl die in öffentlichen, als auch die<br />

in privaten Anstalten <strong>und</strong> in Familienpflege untergebrachten Irren kontrollieren. Offensichtlich ist in Fo-<br />

rels Entwurf der Versuch, die Behandlung geisteskranker Menschen gänzlich unter die Aufsicht der Irren-<br />

594 Maier, 1913, 298f.<br />

595 BAR E 4110 (A) -/42, Band 64, Eingabe des Vereins der schweizerischen Irrenärzte an die hohen Eidg. Räte, 27. Mai 1919.<br />

596 Schwengeler, 1999; Klee, 1991, 34-37.<br />

597 Auguste Forel, «Über die wichtigsten Ursachen der Geisteskrankheiten <strong>und</strong> deren zweckmässige Bekämpfung», in: Jahresbericht<br />

des Zürcher Hilfsvereins für Geisteskranke, 4, 1879, 24, zitiert: Schwengeler, 1999, 52.<br />

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