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Psychiatrie und Strafjustiz

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4 <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Strafrechtsreform in der Schweiz<br />

Die von den Kriminalanthropologen angeregte Strafrechtsdebatte ging keineswegs spurlos an der Schweiz<br />

vorbei. Führende Schweizer Strafrechtler wie Carl Stooss oder Emil Zürcher engagierten sich von Beginn<br />

an aktiv in der internationalen Strafrechtsbewegung <strong>und</strong> waren bestrebt, auch in der Schweiz kriminalpoli-<br />

tische Lernprozesse in Gang zu bringen. Die Schweiz wurde in den 1890er Jahren sogar zum international<br />

beachteten Experimentierfeld einer neuen Kriminalpolitik, die sich eine teilweise Medikalisierung des<br />

Strafrechts auf das Banner geschrieben hatte. Zu Gute kam den Schweizer Strafrechtsreformern der Um-<br />

stand, dass die Schweiz bis zu diesem Zeitpunkt über kein nationales Strafrecht verfügte. Die massgeblich<br />

von der Juristenschaft <strong>und</strong> den auf B<strong>und</strong>esebene tonangebende Radikalen seit dem Ende der 1880er Jah-<br />

ren vorangetriebene Vereinheitlichung der kantonalen Strafrechte ermöglichte den Strafrechtsreformern,<br />

ihre kriminalpolitischen Vorstellungen in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Nebst der staatspoliti-<br />

schen Gr<strong>und</strong>satzfrage der Rechtseinheit stand dabei – wie im umliegenden Ausland – die Frage im Zent-<br />

rum, welchen Stellenwert die künftige Kriminalpolitik medizinischen <strong>und</strong> pädagogischen Behandlungs-<br />

<strong>und</strong> Versorgungskonzepten zugestehen <strong>und</strong> dabei eine Verlagerung von tat- zu täterorientierten Sankti-<br />

onskriterien festschreiben sollte.<br />

Angesichts der Bedeutung, welche die Strafrechtsreformer einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens<br />

einräumten, erstaunt es nicht, dass die zu Beginn der 1890er Jahre anlaufende Strafrechtsreform unter den<br />

Schweizer Psychiatern auf lebhaftes Interesse stiess. Mit der Entstehung einer institutionellen <strong>Psychiatrie</strong><br />

war auch in der Schweiz die Begutachtung <strong>und</strong> Versorgung psychisch gestörter StraftäterInnen nach <strong>und</strong><br />

nach zu einem Tätigkeitsbereich spezialisierter Irrenärzte geworden. Mit der Ausdifferenzierung solcher<br />

Sachverständigenrollen wuchs das praktische <strong>und</strong> wissenschaftliche Interesse der Schweizer Psychiater an<br />

forensisch-psychiatrischen Fragestellungen. Seit den 1880er Jahren erblickten führende Vertreter der Dis-<br />

ziplin in einer radikalen Umgestaltung des Strafrechts schliesslich eine zukunftsträchtige Alternative zum<br />

geltenden Schuldstrafrecht. Die anlaufende Strafrechtsvereinheitlichung erschien ihnen als willkommene<br />

Gelegenheit, um kriminalpolitische Forderungen in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Gleichzeitig<br />

versprachen sich die Psychiater von ihrem rechtspolitischen Engagement einen Beitrag zur Konsolidie-<br />

rung ihrer Disziplin. Beides führte dazu, dass die Strafrechtsreform für die Schweizer Irrenärzten in den<br />

1890er Jahren zu einem «disziplinären Projekt» wurde, das einen beträchtlichen Teil ihrer kollektiven Akti-<br />

vitäten absorbierte.<br />

Nachdem im vorhergehenden Kapitel die internationale Strafrechtsbewegung im Vordergr<strong>und</strong> gestanden<br />

hat, beschäftigt sich dieses längere Kapitel mit den kriminalpolitischen Diskussionen <strong>und</strong> der konkreten<br />

Ausprägung der Strafrechtsreform in der Schweiz zwischen 1890 <strong>und</strong> 1918. Im Zentrum steht die Frage,<br />

welchen Stellenwert die Schweizer Strafrechtsreformer dem Postulat einer (teilweisen) Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens einräumten. Zu diskutieren sind in diesem Zusammenhang die Implikationen der<br />

diskutierten Reformprojekte für die künftige strukturelle Koppelung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong>.<br />

Damit verb<strong>und</strong>en ist die Frage nach der Bedeutung der Strafrechtsreform für die Disziplinbildung der<br />

Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>. Kapitel 4.1 untersucht die politischen <strong>und</strong> institutionellen Rahmenbedingungen der<br />

Schweizer Strafrechtsreform- <strong>und</strong> -vereinheitlichung, deren innere Dynamik wesentlich durch ihren Cha-<br />

rakter als Doppelreform geprägt war. Ebenfalls zu diskutieren ist, in welchem Masse die führenden Straf-<br />

rechtler bereit waren, eine regulative Kriminalpolitik, die auf eine partielle Medikalisierung kriminellen<br />

Verhaltens abzielte, gesetzlich zu verankern. Kapitel 4.2 beschäftigt sich mit der «Entdeckung» der Krimi-<br />

nalpolitik durch die Schweizer <strong>Psychiatrie</strong>, die in der Formulierung einer radikalen Kriminalpolitik gipfelte,<br />

sowie der Herausbildung interdisziplinärer Netzwerke zwischen Strafrechtlern <strong>und</strong> Psychiatern, die ihrer-<br />

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