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Psychiatrie und Strafjustiz

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fern nachvollziehbar, als es sich bei solchen Verfügungen um Rechtsakte handelte, die de jure den Ange-<br />

schuldigten zugute kamen, da sie deren strafrechtliche Schuld verneinten <strong>und</strong> sie von Strafe verschonten.<br />

In der Praxis hatten allerdings Verfahrenseinstellungen für die Betroffenen oft weiterreichende Folgen als<br />

eine Verurteilung. Denn die Einstellung eines Strafverfahrens infolge Unzurechnungsfähigkeit bewog die<br />

Strafverfolgungsbehörden in den meisten Fällen, direkt beim Regierungsrat einen Antrag auf die Verhän-<br />

gung sichernder Massnahmen zu stellen. Verfahrenseinstellungen bildeten demnach oft den Auftakt für<br />

neue, medikalisierte Zugriffe auf die betroffenen StraftäterInnen.<br />

Konsensuale Verhandlungskonstellationen vor Gericht<br />

Komplexer als Verfahrenseinstellungen gestalteten sich Verhandlungskonstellationen vor Gericht <strong>und</strong><br />

namentlich vor den Geschworenengerichten. Als Akteure standen sich hier die Staatsanwälte, die Ange-<br />

klagten <strong>und</strong> deren Verteidiger, die Berufsrichter der Kriminalkammer <strong>und</strong> die Geschworenen als Laien-<br />

richter gegenüber. Ebenfalls vor Gericht anwesend waren die psychiatrischen Sachverständigen, die ihre<br />

Gutachten mündlich zu erläutern <strong>und</strong> Nachfragen von Anklage <strong>und</strong> Verteidigung zu beantworten hatten.<br />

Sowohl die Staatsanwälte, als auch die Verteidiger verfügten über die Möglichkeit, dem Gericht ihre<br />

Sichtweise des Falls <strong>und</strong> ihre Einschätzung der Zurechnungsfähigkeit vorzutragen. Die endgültige Beurtei-<br />

lung der Zurechnungsfähigkeit war jedoch alleinige Sache der Geschworenen, welche die Schuldfrage in<br />

geheimer Beratung zu beantworten hatten. 1075 In den Quellen präsentiert sich der Entscheidungsprozess<br />

der Geschworenen ebenfalls als eine Art black box, der sich nur von seinem Ergebnis her erschliessen lässt.<br />

Die Kriminalkammer verzichtete in der Regel in ihrer Urteilsbegründung auf eine ausführliche Kommentierung<br />

des Geschworenenspruchs. In einigen Fällen, vor allem wenn es um die Milderung der Strafe we-<br />

gen einer verminderten Zurechnungsfähigkeit ging, diskutierten die Berufsrichter allerdings mehr oder<br />

weniger ausführlich die Beurteilung der Schuldfähigkeit. Im Folgenden wird die juristische Würdigung<br />

psychiatrischer Gutachten durch die Berner Geschworenengerichte im Hinblick auf die Kategorien «Kon-<br />

sens» <strong>und</strong> «Konflikt» analysiert. Zu unterscheiden sind demnach Fallbeispiele, bei denen die Meinungen<br />

der Sachverständigen <strong>und</strong> die Schlussfolgerungen des Gerichts übereinstimmten oder auseinander gingen.<br />

Insgesamt konvergierten Gutachten <strong>und</strong> Urteile in etwas mehr als der Hälfte der 48 Gerichtsfälle aus dem<br />

Sample. In der andern Hälfte der Fälle kam es dagegen zu mehr oder weniger ausgeprägten Differenzen<br />

bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit, die allerdings unterschiedlicher Tragweite sein konnten. 1076<br />

Übereinstimmend auf Unzurechnungsfähigkeit lauteten beispielsweise Gutachten <strong>und</strong> Urteil im Fall von<br />

Christian F., der 1898 wegen versuchter Brandstiftung angeklagt war. Ihn hatte das Gutachten als «Epilep-<br />

tiker» bezeichnet, der an «Sinnestäuschungen» leide. Das Motiv seiner Tat sei deshalb «Ausdruck einer<br />

Wahnidee» gewesen. Staatsanwalt <strong>und</strong> Verteidiger plädierten in diesem Fall beide auf vollständige Unzu-<br />

rechnungsfähigkeit. Die Geschworenen folgten ihrerseits diesen Anträgen <strong>und</strong> sprachen Christian F. von<br />

jeder Schuld frei. 1077 Eine ähnliche Einmütigkeit zwischen Anklage, Verteidigung <strong>und</strong> Gericht lassen sich<br />

auch in zwei Fällen aus dem Jahre 1918 feststellen. Sowohl der an «Dementia praecox» leidende Samuel B.<br />

als auch Johann R., bei dem die Psychiater wegen seines «Schwachsinns» das Vorhandensein der Strafein-<br />

sicht verneinten, wurden vom Gericht wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen. 1078 In allen drei<br />

Fällen beantragte das Gericht beim Regierungsrat sichernde Massnahmen. Bezeichnenderweise hatten die<br />

1075 Vgl. Sollberger, 1996, 132-135; StV 1850, Artikel 370-448.<br />

1076 Vgl. Kp. 6.4. Die statistische Übereinstimmung zwischen Expertenmeinungen <strong>und</strong> Urteilen nimmt beträchtlich zu, wenn auch<br />

die aufgr<strong>und</strong> von psychiatrischen Gutachten eingestellten Fälle im Sample berücksichtigt werden (dann läge der Wert bei 71%).<br />

1077 StAB BB 15.4, Band 87, Verhandlung der Assisen gegen Christian F.,17. August 1898.<br />

1078 StAB BB 15.4, Band 125, Verhandlung der Assisen gegen Samuel B., 12. Dezember 1918; StAB BB 15.4, Band 2095, Dossier<br />

1857, Urteil über Johann R., 25. Februar 1919;<br />

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