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Psychiatrie und Strafjustiz

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Ehemann von Elisabeth Z. über die Menstruation seiner Frau <strong>und</strong> zogen sogar zusätzliche Erk<strong>und</strong>igun-<br />

gen am Wohnort ein. Wie das Gutachten festhielt, besserten sich die Aufregungszustände, welche die<br />

Ärzte während der ersten Periode zur Zeit der Aufnahme konstatiert hatten, beim zweiten Monatszyklus<br />

merklich: «Es ist über diese Periode auch nicht die geringste gemütliche Veränderung, Aufregung, Ge-<br />

reiztheit oder Hemmung <strong>und</strong> Depression beobachtet worden.» 1066<br />

Aufgr<strong>und</strong> ihrer Befragungen <strong>und</strong> Erk<strong>und</strong>igungen vermeinten die Psychiater, den Zusammenhang zwi-<br />

schen der begangenen Brandstiftung <strong>und</strong> der Menstruation von Elisabeth Z. geklärt zu haben: «Am Tage<br />

vor der eingeklagten Tat hat die Frau die Periode nicht gehabt, wohl aber, wie sie angibt zwei Tage später.<br />

Wir dürften also das ängstliche, aufgeregte <strong>und</strong> sonderbare Wesen <strong>und</strong> Benehmen der Angeklagten am<br />

Abend der Tat, wie es von der Zeugin W. beobachtet worden war, als Beginn eines der zahlreichen<br />

menstruellen Aufregungszustände, wie sie bei Frau Z. vorkommen, betrachten.» Die Schlussfolgerungen<br />

der Psychiater stützten sich zu einem guten Teil auf die Aussagen von Elisabeth Z. Mit den Angaben über<br />

den Menstruationszyklus <strong>und</strong> vor allem was dessen Rolle beim Schreiben der anonymen Briefen betraf,<br />

dürfte die Erzählung von Elisabeth Z. recht genau dem Deutungsmuster der «weiblichen Schwäche» <strong>und</strong><br />

damit den Erwartungen der Psychiater entsprochen haben. Aufgr<strong>und</strong> der Quellen lässt sich kaum eindeu-<br />

tig entscheiden, ob <strong>und</strong> inwiefern ihre Aussagen taktischer Natur waren, um dadurch eine Milderung der<br />

Strafe zu erreichen, oder inwiefern ihre Selbstthematisierung den medizinischen unbewusst Diskurs re-<br />

produzierte. Auf jeden Fall verdeutlicht dieses Fallbeispiel die entscheidende Rolle der psychiatrischen<br />

Infrastruktur <strong>und</strong> der Anstaltstechnologie bei psychiatrischen Begutachtungen. Erst die Beobachtung von<br />

Elisabeth Z. über einen doppelten Monatszyklus <strong>und</strong> die wiederholte Befragung der Explorandin erlaubte<br />

den männlichen Experten, Zusammenhänge zwischen der eingeklagten Brandstiftung <strong>und</strong> der Menstrua-<br />

tion ausführlich zu thematisieren. Das Gutachten bestätigte schliesslich die bereits beim ersten Anstalts-<br />

aufenthalt gestellt Diagnose der «reizbaren Schwäche». Darunter verstanden die Psychiater eine «krankhaf-<br />

te Veränderung der Affektdisposition, eine leichte Veränderung der psychischen Persönlichkeit, wie wir<br />

sie bei erblich Belasteten finden, bei Individuen mit zu Geisteskrank disponierender psychopathischer<br />

Konstitution». Was die Menstruation von Elisabeth Z. betraf, schloss das Gutachten: «Die Abnormität hat<br />

in den letzten Jahren zugenommen <strong>und</strong> ausserdem traten zur Zeit der Perioden anfallmässige Verschlim-<br />

merungen ein.» Die Sachverständigen hielten Elisabeth Z. deshalb für vermindert zurechnungsfähig. 1067<br />

Wie im Fall von Lina H. massen die Sachverständigen auch bei Elisabeth Z. den «menstruellen Aufre-<br />

gungszuständen» lediglich eine sek<strong>und</strong>äre Bedeutung zu. Sie gaben damit klar dem neueren Deutungsmus-<br />

ter den Vorzug, das eine unzureichende Affektkontrolle auf eine «psychopathische Konstitution» zurück-<br />

führte. Gleichzeitig erlaubte ihnen aber das Modell der «verminderten Widerstandskraft», das neue mit<br />

dem traditionellen Deutungsmuster der «weiblichen Schwäche» zu verzahnen. Die Psychiater entwickelten<br />

denn auch bei ihren Bemühungen, Zeitpunkt <strong>und</strong> Umstände der Menstruation festzustellen, einen ausgreifenden<br />

Sexualitätsdiskurs, in dessen Zentrum eine vermeintliche «weiblichen Schwäche» stand, die die<br />

strafrechtliche Verantwortlichkeit von Frauen gr<strong>und</strong>sätzlich zweifelhaft erscheinen liess. Die Überlagerung<br />

zweier Generationen von Deutungsmustern hatte allerdings den Effekt, dass die Brandstiftung von Elisa-<br />

beth Z. gleich in doppelter Hinsicht pathologisiert wurde. Zum einen war sie das Resultat einer «krankhaf-<br />

ten Veränderung der Affektdisposition», zum andern Ergebnis eines «menstruellen Aufregungszustands».<br />

In den Augen der Psychiater waren Anlage wie Unterleib dafür verantwortlich, dass Elisabeth Z. die<br />

«normale Überlegungskraft <strong>und</strong> Selbstbeherrschung» beim Begehen der Tat gefehlt hatten.<br />

1066 StAB BB 15.4, Band 1769, Dossier 80, Psychiatrisches Gutachten über Elisabeth Z, 26. August 1904.<br />

1067 StAB BB 15.4, Band 1769, Dossier 80, Psychiatrisches Gutachten über Elisabeth Z, 26. August 1904.<br />

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