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Psychiatrie und Strafjustiz

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Der von Aschaffenburg im Anschluss an die Reise veröffentlichte Bericht gibt einen umfassenden Über-<br />

blick über die forensisch-psychiatrischen Verwahrungsinstitutionen in Europa vor dem Ersten Weltkrieg.<br />

Aschaffenburg differenzierte zwischen vier Lösungsansätzen zur Unterbringung geistesgestörter Delin-<br />

quentInnen. Zunächst nannte er die Errichtung eigenständiger Zentralanstalten, die sich losgelöst von<br />

bestehenden Straf- <strong>und</strong> Irrenanstalten der Verwahrung abnormer Delinquenten annahmen. Dann unter-<br />

schied er Annexe an bestehenden Straf- oder Irrenanstalten. Schliesslich erwähnte er die Möglichkeit,<br />

geistesgestörte DelinquentInnen auf verschiedene Abteilungen bestehender Irrenanstalten zu verteilen. 1209<br />

Die Verwahrung abnormer Delinquenten in eigenständigen Zentralanstalten wurde in Grossbritannien, Irland,<br />

Italien <strong>und</strong> Norwegen bevorzugt. Als wichtigstes Beispiel dieses Anstaltstyps beschrieb Aschaffenburg das<br />

1863 eingerichtete englische Broadmoor criminal lunatic asylum. In Broadmoor wurden sowohl «verbrecheri-<br />

sche Geisteskranke», das heisst für unzurechnungsfähig bef<strong>und</strong>ene StraftäterInnen, als auch «geisteskranke<br />

Verbrecher», das heisst während der Haft erkrankte Häftlinge, verwahrt. Auf Aschaffenburg machte<br />

Broadmoor den Eindruck eines «düsteren Zuchthauses» <strong>und</strong> er kritisierte die strengen Entlassungsbedin-<br />

gungen sowie die rigiden Sicherheitsmassregeln. Positiv äusserte er sich über die materielle Ausstattung<br />

der Anstalt <strong>und</strong> die hygienischen Verhältnisse. Kaum günstiger beurteilte Aschaffenburg die Manicomi<br />

giudiziari Italiens. Auch hier hob er den Gefängnischarakter der Anstalten <strong>und</strong> die fehlenden Beschäfti-<br />

gungsmöglichkeiten hervor. 1210<br />

Bedeutsamer für die Diskussionen in der Schweiz erwiesen sich die vor allem in Deutschland beliebten<br />

Annexe an Straf- <strong>und</strong> Irrenanstalten. Bereits 1876 richtete die sächsische Strafanstalt Waldheim eine spezielle<br />

Irrenabteilung ein. 1211 Zwischen 1887 <strong>und</strong> 1902 eröffneten auch sechs preussische Strafanstalten Beobach-<br />

tungsabteilungen für «geisteskranke Verbrecher». Bis zum Ersten Weltkrieg folgten weitere deutsche Länder<br />

dem Beispiel Preussens. Nach Aschaffenburg dienten diese Beobachtungsabteilungen in erster Linie<br />

der «Auslese der für den Strafvollzug ungeeigneten Kranken» <strong>und</strong> weniger einer längeren stationären Be-<br />

handlung. Durch die Selektion <strong>und</strong> Verlegung «ungeeigneter» Häftlinge sollte der reguläre Strafvollzug<br />

entlastet werden. 1212 Angesichts der beschränkten Möglichkeiten solcher Beobachtungsabteilungen began-<br />

nen Preussen <strong>und</strong> andere deutsche Länder um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende, auch an Irrenanstalten spezielle<br />

Annexe zu errichten. Diese hatten unter anderem die von den Beobachtungsabteilungen überwiesenen<br />

Häftlinge aufzunehmen. Im Gegensatz zu den Beobachtungsabteilungen dienten diese «Bewahrungshäu-<br />

ser» oder «festen Häuser» einer langfristigen Verwahrung «gefährlicher Geisteskranker». Dazu gehörten<br />

nebst den aus dem Strafvollzug ausgegliederten «geisteskranken Verbrechern» unzurechnungsfähige<br />

«verbrecherische Geisteskranke» sowie unbescholtene Geisteskranke, deren Verhalten in den regulären<br />

Irrenanstalten zu Problemen geführt hatte. Die Bewahrungshäuser unterstanden in der Regel der ärztli-<br />

chen Leitung der Irrenanstalt; sie verfügten über besondere Sicherungsmittel, zusätzliches Aufsichtsperso-<br />

nal <strong>und</strong> im Idealfall über ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten. 1213 Im Gegensatz zu Broadmoor, das<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen gleichermassen aufnahm, waren die Annexe in Deutschland, soweit sich dies aus dem<br />

Bericht Aschaffenburgs ersehen lässt, primär auf die Verwahrung männlicher Delinquenten zugeschnit-<br />

ten. 1214 Als letzte Möglichkeit zur Unterbringung «verbrecherischer Geisteskranker» erwähnte Aschaffen-<br />

burg die Verteilung auf bestehende Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalten. Diese Variante wurde unter anderem in Bayern,<br />

Holland, Österreich <strong>und</strong> der Schweiz praktiziert. Wie Aschaffenburg festhielt, war diese Lösung indes<br />

1209 Aschaffenburg, 1912, 233.<br />

1210 Vgl. Aschaffenburg 122-130, 143-160. Zu Broadmoor: Dell/Robertson, 1988; Smith, 1981, 23 f.<br />

1211 Schröter, 1994, 28f.; Aschaffenburg, 1912, 83-85, 255-257.<br />

1212 Aschaffenburg, 1912, 38-56, 243-252.<br />

1213 Aschaffenburg, 1912, 56-80, 258-267.<br />

1214 Vgl. die lückenhaften Angaben bei Aschaffenburg, 1912, 38, 65, 70, 74; Weber, 1912.<br />

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