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Psychiatrie und Strafjustiz

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S. oder eine «sadistische Neigung». 1046 Sexualdelinquenten wie Ulrich B. verstiessen dagegen «nur» gegen<br />

das bürgerliche Ideal der männlichen Triebkontrolle, nicht aber gegen die «heterosexuelle Matrix» (Judith<br />

Butler) der bürgerlichen Geschlechterordnung. Und eine mangelhafte Trieb- <strong>und</strong> Selbstkontrolle war in<br />

den Augen der Berner Psychiater weniger eine Frage der männlichen Sexualität, als ein Bestandteil der<br />

Fähigkeit des Mannes zu einer «sittlichen Selbstführung» überhaupt. Eine dementsprechend zentrale Rolle<br />

spielten in solchen Gutachten Deutungsmuster wie «Psychopathie» oder «Schwachsinn», die eine Proble-<br />

matisierung der strafrechtlichen Willenssemantik erlaubten. Der Fall von Hans Rudolf W. zeigt aber auch,<br />

wie die Psychiater «Perversionen» mit dem Modell der «verminderten Widerstandskraft» zu verzahnen<br />

wussten. Ein «moralischer Defekt» <strong>und</strong> eine «abnorme» sexuelle Veranlagung verflochten sie in seinem<br />

Fall zum Gesamtbild eines «eigentümlichen Charakters». Abweichendes Sexualverhalten wurde damit<br />

definitiv in die Individualität der Exploranden eingepflanzt.<br />

7.5.4.2 «Sexualität» von Frauen: Tradition <strong>und</strong> Überlagerung von Deutungsmustern<br />

Nach Krafft-Ebing äusserte sich «abnormes» Sexualverhalten von Frauen in erster Linie in einem aktiven<br />

Artikulieren eines «sinnlichen Verlangens». Sexuelle Bedürfnisse von Frauen gerieten dadurch von Anbe-<br />

ginn in den Ruch des Pathologischen. Allerdings stiess die Norm der entsexualisierten Frau auch in der<br />

<strong>Psychiatrie</strong> der Jahrh<strong>und</strong>ertwende keineswegs auf ungebrochene Zustimmung. So gestand etwa Auguste<br />

Forel Frauen, wenngleich in einem geringeren Ausmass als Männern, sehr wohl sexuelle Empfindungen<br />

zu. 1047 Auch die Berner Psychiater sahen in weiblichem Begehren keineswegs zwingend ein Zeichen von<br />

«Abnormität». So hielten die Sachverständigen der 1903 begutachteten Emilia R. zugute, dass sie ihre<br />

Männerbeziehungen immer in der Hoffnung auf eine spätere Heirat eingegangen sei. Auch wenn sie damit<br />

das Ideal der ehelichen Sexualität bekräftigten, sahen die Psychiater in den mehrfachen Sexualkontakten<br />

von Emilia R. an sich nichts «Abnormes». 1048 Auch im Fall von Elisabeth Z., die gemäss ihrem Ehemann<br />

«geschlechtlich sehr lebhaft» sei <strong>und</strong> mehr von ihm verlange, «als er konnte», erwähnten die Sachverstän-<br />

digen diese Hinweise in ihrem Gutachten nur beiläufig. 1049 Eine weitaus grössere Rolle als sexuelle Be-<br />

dürfnisse von Frauen, spielte dagegen in den Berner Gutachten das Deutungsmuster einer spezifisch<br />

«weiblichen Schwäche». Dass soziales <strong>und</strong> damit auch rechtswidriges Verhalten von Frauen stark durch<br />

Sexualfunktionen wie Schwangerschaft, Menstruation oder Klimakterium geprägt sein konnten, gehörte<br />

zu einem traditionellen gerichtsmedizinischen Gemeinplatz, der aber durch den Geschlechterdiskurs der<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende nochmals Auftrieb erhielt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, wurde diese «weibli-<br />

che Sonderanthropologie» (Claudia Honegger) aber zunehmend von einem geschlechtsneutral formulier-<br />

ten Modell der «verminderten Widerstandskraft» überlagert.<br />

Die Tradition der «weiblichen Sonderanthropologie»<br />

Bereits in der Frühen Neuzeit billigten Ärzte <strong>und</strong> Richter schwangeren Frauen eine zurückhaltende Be-<br />

strafung <strong>und</strong> Folter zu. 1050 Erst im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert schenkten die Gerichtsärzte jedoch Zuständen wie der<br />

Menstruation oder dem Klimakterium eine verstärkte Aufmerksamkeit. So standen Regelblutungen <strong>und</strong><br />

Wechseljahre nun zunehmend im Zentrum der gerichtsmedizinischen Untersuchungen von Frauen. Ein<br />

durch den Uterus dominierter Säftehaushalt wurde nun als Argument für eine vorübergehende Verminde-<br />

1046 Ansätze zu einer solchen Diskursivierung des Sexuellen, die allerdings nirgends so ausgeprägt war wie im Fall von Hans Rudolf<br />

W. finden sich in folgenden Fallbeispielen: StAB Bez. Bern, Band 3263, Dossier 628; StAB BB 15.4, Band 1972, Dossier<br />

1209; StAB BB 15.4, Band 2089, Dossier 1817.<br />

1047 Forel, 1906, 91-97; Ulrich, 1985, 67-69. Forel blieb gleichwohl stark dem dualistischen Modell von aktiver männlicher <strong>und</strong><br />

passiver weiblicher Sexualität verhaftet; vgl. Ostorero, 1995, 210f.<br />

1048 StAB BB 15.4, Band 1753, Dossier 9735, Psychiatrisches Gutachten über Emilia R., 1. Oktober 1903.<br />

1049 StAB BB 15.4, Band 1769, Dossier 80, Psychiatrisches Gutachten über Elisabeth Z., 26. August 1904.<br />

1050 Fischer-Homberger, 1983, 126.<br />

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