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Psychiatrie und Strafjustiz

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sind, brauchen wir uns auf solche Diskussionen nicht einzulassen, dürfen es im Gr<strong>und</strong>e nicht einmal.<br />

Denn über die Bedeutung von Rechtsbegriffen hat sich der psychiatrische Experte nicht zu äussern, <strong>und</strong><br />

der Begriff der Zurechnungsfähigkeit ist zweifellos kein medizinischer, sondern ein Rechtsbegriff.» 1336<br />

Dementsprechend sprach sich Dukor dagegen aus, dass sich psychiatrische Sachverständige explizit über<br />

die Frage der Zurechnungsfähigkeit zu äussern hätten. In Dukors <strong>und</strong> von Muralts Voten kam damit eine<br />

Position zum Ausdruck, die zwischen Kriminalpolitik <strong>und</strong> Begutachtungspraxis klar trennen wollte <strong>und</strong><br />

die wissenschaftliche Autonomie der Psychiater gegenüber der Effizienz der forensischen Praxis in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> stellte. Damit verb<strong>und</strong>en war ein teilweiser Verzicht auf die Kontrolle der transformativen<br />

Systembeziehungen zwischen <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> <strong>Strafjustiz</strong>.<br />

Forensische <strong>Psychiatrie</strong> in der Zwischenkriegszeit: Fehlende institutionelle Ausdifferenzierung<br />

<strong>und</strong> Demedikalisierungstendenzen<br />

Zwei Faktoren bestimmten die forensisch-psychiatrischen Debatten der Zwischenkriegszeit massgeblich:<br />

zum einen die fehlende institutionelle Ausdifferenzierung, zum andern die Tendenz zu einer zunehmenden Demedikali-<br />

sierung des psychiatrischen Massnahmenvollzugs. Die Kombination beider Faktoren führte letztlich dazu,<br />

dass führende Schweizer Psychiater seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend kriminalpolitische Positionen<br />

bezogen, die sich diametral von den ursprünglichen Medikalisierungspostulaten der Disziplin unterschie-<br />

den. Das Institutionalisierungsdefizit im Bereich der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> verhinderte einerseits eine<br />

fachliche Spezialisierung der Gerichtspsychiatrie, andererseits wurde dadurch eine adäquate Lösung des<br />

Verwahrungsproblems auf die lange Bank geschoben. Angesichts dieses Umstands verlegte sich eine<br />

Mehrheit der Schweizer Psychiater zunehmend auf funktional äquivalente Strategien, die unter dem Beg-<br />

riff der Demedikalisierung zusammengefasst werden können. Solche Demedikalisierungsstrategien waren<br />

das Ergebnis von Lernprozessen, die sowohl von den Schwierigkeiten der Anstaltspsychiater im Umgang<br />

mit «verbrecherischen Geisteskranken», als auch von kriminalpolitischen Rahmenbedingungen ausgingen,<br />

welche eine institutionelle Lösung des Verwahrungsproblems mittelfristig unwahrscheinlich machten. Die<br />

Demedikalisierungsstrategien setzten indes an unterschiedlichen Punkten an. So wollte Ris missliebige<br />

«Grenzfälle» unabhängig von ihrer Schuldfähigkeit in den regulären Strafvollzug abschieben. Psychiater<br />

wie Gehry sowie später auch Bleuler <strong>und</strong> Maier plädierten dagegen für eine restriktivere Exkulpationspra-<br />

xis. Die Äusserungen Gehrys <strong>und</strong> Bleulers verdeutlichen, dass es dabei in erster Linie darum ging, be-<br />

stimmte DelinquentInnen gar nicht erst in den Irrenanstalten verwahren zu müssen. Voraussetzung für<br />

eine Modifikation der Exkulpationspraxis war allerdings, dass die Psychiater direkt Einfluss auf die Ent-<br />

scheide der Justizbehörden nehmen konnten. Dies sollte, so Maier <strong>und</strong> Gehry, durch eine explizite Be-<br />

antwortung der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit durch die Sachverständigen geschehen, wodurch<br />

sich die Anschlussfähigkeit der psychiatrischen Anliegen seitens der Justizbehörden optimieren lasse. Im<br />

Vergleich zu den Schweizer Irrenärzten, die in den 1890er Jahren eine strikte Trennung medizinischer <strong>und</strong><br />

juristischer Beurteilungsmassstäbe gefordert hatten, vollzogen die beiden Psychiater damit eine deutliche<br />

Kehrtwende. Wie die Beiträge von Muralts <strong>und</strong> Strassers zeigen, geriet die nach dem Ersten Weltkrieg<br />

geforderte Unterordnung der Begutachtungspraxis unter kriminal- <strong>und</strong> standespolitische Erwägungen<br />

allerdings auch innerhalb der Disziplin auf harsche Kritik.<br />

Die anhaltende Uneinigkeit innerhalb der psychiatrischen Disziplin, was die Lösung des Verwahrungs-<br />

problems <strong>und</strong> die Anpassung der Exkulpationspraxis anbelangt, zeigt, dass es den Schweizer Psychiater in<br />

der Zwischenkriegszeit letztlich nicht gelang, eine kohärente Strategie zur Bewältigung der Folgeprobleme<br />

einer forcierten Medikalisierung kriminellen Verhaltens zu entwickeln. Angesichts der wachsenden<br />

1336 Dukor, 1938, 230 f.<br />

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