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Psychiatrie und Strafjustiz

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meist auf Vererbung zurückgeführte «Charakteranomalien» ins Blickfeld der psychiatrischen Sachverstän-<br />

digen. Dass diese Deutungsmuster ein beträchtliches Potenzial für eine Medikalisierung kriminellen Ver-<br />

haltens bargen, zeigt sich beispielhaft an einem Beitrag, mit dem der Basler Psychiater Ludwig Wille<br />

(1834–1912) 1876 im Correspondenzblatt auf die Bedeutung von Morels Degenerationstheorie für die psy-<br />

chiatrische Praxis aufmerksam machte. Wille widersprach zwar Morels Annahme einer zwangsläufig ver-<br />

laufenden progressiven Entartung, betonte aber das häufige Vorkommen «neuropathischer Constitutio-<br />

nen» in der psychiatrischen Praxis. In den Vordergr<strong>und</strong> seiner Ausführungen stellte er diejenigen Patien-<br />

ten, deren psychischen «Anomalien» Folgen einer «vererbten neuropathischen Anlage», einer «architektonischen<br />

Störung des Gehirns» seien, die jedoch nicht als geisteskrank im eigentlichen Sinn bezeichnet<br />

werden könnten. Relevant war das Deutungsmuster der «neuropathischen Konstitution» für Wille eben-<br />

falls im Hinblick auf eine Pathologisierung sozialer Devianz, erlaubte es doch, soziales Fehlverhalten auf<br />

eine angeborene abnorme Konstitution zurückzuführen. So schrieb er bezüglich der «mit Defecten behaf-<br />

teten psychischen Constitutionen»: «[...] solchen Leuten fehlt der Sinn fürs häusliche Familienleben, für<br />

geregelte bürgerliche Tätigkeit; den Anforderungen des sozialen Lebens, der moralischen Gesetze stellen<br />

sie einen einseitigen Egoismus entgegen, der die Gr<strong>und</strong>lage ihres Denkens <strong>und</strong> Fühlens, die Triebquelle<br />

ihres Handelns bildet.» 436<br />

Auf die forensische Bedeutung solcher «Charakteranomalien» verwies ein Jahrzehnt später ebenfalls Willes<br />

Berner Kollege Georg Glaser (1854–1933) bei der Beschreibung einer «Klasse von Personen», die auf dem<br />

«Grenzgebiet geistiger Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit stehen». Konsequenz solcher meist durch Vererbung<br />

bedingten «Charakterdefekte» sei, so Glaser, oft «ein «Mangel der ges<strong>und</strong>en, normal beschaffenen, so ge-<br />

nannten freien Willensbestimmung <strong>und</strong> die daraus resultierenden, zahlreichen, ungewöhnlichen, egoisti-<br />

schen, unmoralischen <strong>und</strong> unerlaubten Handlungen». 437 Indem er auf die Beeinträchtigung der Willens-<br />

freiheit durch solche «Grenzzustände» hinwies, rekurrierte Glaser direkt auf die Willenssemantik des bür-<br />

gerlichen Strafdiskurses. Pointierter als Glaser stellte Auguste Forel die Vererbung als Ursache von «Cha-<br />

rakterabnormitäten» in den Vordergr<strong>und</strong>, als er 1890 unter Bezugnahme auf Krafft-Ebings Begriff der<br />

«Entartung» Zustandsbilder beschrieb, «welche dadurch besondere Schwierigkeiten bereiten, dass sie nicht<br />

im Leben durch eine besondere Ursache erworben worden sind, dass sie auch nicht mit dem gewöhnli-<br />

chen Krankheitsbild einer congenitalen Geistesstörung (Idiotismus) zusammenfallen, sondern dass sie als<br />

Abnormität desjenigen tiefer ererbten <strong>und</strong> automatisierten Complexes von Gehirntätigkeit auftreten, den<br />

wir Charakter nennen <strong>und</strong> somit in exquisiter Weise als Abnormitäten der erblichen Anlage zu betrachten<br />

sind.» 438 Später konzedierte Forel allerdings, dass straffälliges Verhalten eine «Resultante vieler heterogener<br />

Componenten» sein könne, nebst der «hereditären Anlage» würden dabei auch die im Laufe des Lebens<br />

erfolgten «Einwirkungen auf das Gehirn» sowie «äussere Umstände <strong>und</strong> Veranlassungen» eine Rolle spie-<br />

len. Als somatisch orientierter Irrenarzt habe er sich aber mit dieser letzen «rein juristischen Componen-<br />

ten-Categorie» nicht weiter zu beschäftigen. 439 Für Forel war klar, dass sich unter diesen Umständen eine<br />

klare Grenzziehung zwischen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit nicht länger aufrechterhalten liess: «Es gibt so-<br />

mit keine scharfe Grenze zwischen der geistigen Krankheit, dem inadäquaten Charakter eines Verbrechers<br />

<strong>und</strong> dem adäquaten Wesen eines normalen Menschen; ebenso wenig wie zwischen Krankheit, den körper-<br />

lichen Anomalien <strong>und</strong> der Ges<strong>und</strong>heit überhaupt». 440 Unter Berufung auf seine Erfahrung als Sachver-<br />

ständiger gab sich Forel überzeugt, dass ein grosser Teil der gerichtlich belangten DelinquentInnen psy-<br />

436 Wille, 1876, 647.<br />

437 Glaser, 1887, 23.<br />

438 Forel, 1890, 236.<br />

439 Kölle, 1896, IV.<br />

440 Forel, 1889, 18.<br />

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