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Psychiatrie und Strafjustiz

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Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> engagierte. So gehörte von Speyr zu den profiliertesten Verfechtern eines eidgenös-<br />

sischen Irrengesetzes <strong>und</strong> beteiligte sich intensiv an der Strafrechtsdebatte. Zwischen 1898 <strong>und</strong> 1901 prä-<br />

sidierte er den Verein schweizerischer Irrenärzte. Von Speyr hegte indes keine grösseren wissenschaftlichen<br />

Ambitionen. Wie für die meisten Berner Psychiater seiner Generation stand für ihn die praktische An-<br />

staltspsychiatrie <strong>und</strong> die Tätigkeit als Gutachter im Vordergr<strong>und</strong>. Zu seinen Schülern <strong>und</strong> Untergebenen<br />

gehörten die Oberärzte Robert Walker (1866–1916), Ernst Fankhauser (1868–1941) <strong>und</strong> Walter Mor-<br />

genthaler (1883–1965), die mit ihm zusammen regelmässig als Gerichtsgutachter tätig waren. 684 Eine enge<br />

berufliche Beziehung pflegte von Speyr zu seinem Kollegen Ulrich Brauchli (1862–1939), der 1899–1905<br />

der Anstalt Bellelay <strong>und</strong> 1912–1939 der Anstalt Münsingen vorstand. Auch Brauchli, der seine Ausbildung<br />

durch Bleuler erhielt, war wie sein Vorgänger Georg Glaser ein regelmässiger Experte vor Gericht. 685 Gla-<br />

ser seinerzeit entsprach, wie Brauchlis Nachfolger in Bellelay, Hugo Hiss (gest. 1920) 686, eher dem Typus<br />

Schärers. Als ehemaliger liberaler Landarzt war er stärker mit der traditionellen medizinischen Elite Berns<br />

als mit der Zürcher <strong>Psychiatrie</strong> verb<strong>und</strong>en. Glaser beschäftigte sich indes intensiv mit forensisch-<br />

psychiatrischen Fragen. 687 Als typischer Anstaltspsychiater lässt sich auch der langjährige Sek<strong>und</strong>ararzt<br />

Münsingens, Alfred Good (1866–1940), bezeichnen. Als Sohn eines Rechtsanwalts, der sich für eine me-<br />

dizinische Laufbahn entschied, profilierte sich Good im Bereich der Forensik <strong>und</strong> dürfte zwischen 1900<br />

<strong>und</strong> 1940 der meist konsultierte Gerichtsgutachter im Kanton Bern gewesen sein. 688<br />

Die führenden Berner Psychiater entstammten alle dem Bürgertum oder den bürgerlichen Mittelschichten.<br />

Sie waren allesamt Männer. Als staatlich besoldete Anstaltsärzte besassen sie allerdings nur teilweise den<br />

Status freiberuflicher professionals, ihre Berufstätigkeit war denn auch stark in die administrative Hierarchie<br />

eines staatlichen Ges<strong>und</strong>heitswesens eingeb<strong>und</strong>en. So waren sie etwa verpflichtet, in den Irrenanstalten<br />

selbst Wohnsitz zu nehmen. Dennoch verkörperten sie in sozialer Hinsicht einen an bürgerlichen Prinzi-<br />

pien <strong>und</strong> Werten orientierten Lebensstil. Sie gehörten, mit Ausnahme Morgenthalers, zu einer Ärztegene-<br />

ration, die in den 1880er <strong>und</strong> 1890er Jahren zur <strong>Psychiatrie</strong> stiess <strong>und</strong> deren Karrierebeginn in die Phase<br />

der Schweizer Strafrechtsdebatte fiel. Die damit zusammenhängenden Auseinandersetzungen boten ihnen<br />

Gelegenheiten, sich fachlich zu profilieren <strong>und</strong> Netzwerke in- <strong>und</strong> ausserhalb der scientific community zu<br />

knüpfen. Ihre berufliche Tätigkeit war zudem stark durch die seit den 1890er Jahren steigende Zahl psy-<br />

chiatrischer Gutachten in Straffällen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene enge Kooperation mit den Justizbehörden<br />

geprägt. Indem sie regelmässig Sachverständigenaufgaben übernahmen, vermochten diese <strong>Psychiatrie</strong>ärzte<br />

nebst ihrer beruflichen Kernrolle als Anstaltspsychiater eine Sachverständigenrolle auszudifferenzieren.<br />

Institutionellen Rückhalt fanden sie dabei in den seit der Jahrh<strong>und</strong>ertmitte errichteten Irrenanstalten, die<br />

nicht nur homogene Beobachtungsräume zur Verfügung stellten, sondern auch Raum für den Vollzug<br />

sichernder Massnahmen boten. Unter diesen Umständen erstaunt es nicht, dass sich viele von ihnen in<br />

kriminal- <strong>und</strong> sozialpolitischen Fragen engagierten <strong>und</strong> bestrebt waren, ihre Erfahrungen als Gerichts-<br />

sachverständige mittels Publikationen <strong>und</strong> Referaten in lokale <strong>und</strong> nationale Netzwerke einzubringen. 689<br />

Von Speyr, Walker <strong>und</strong> Fankhauser unterrichteten beispielsweise an der Universität regelmässig angehen-<br />

de Juristen in forensischer <strong>Psychiatrie</strong>. 690 Von Speyr, Glaser <strong>und</strong> Good referierten zu forensisch-<br />

psychiatrischen Themen vor dem Berner Juristenverein <strong>und</strong> dem Berner Hilfsverein für Geisteskranke, dem eben-<br />

684 Der B<strong>und</strong>, 15. Februar 1916 (Walker); SANP, 50, 1943, 147-149 (Fankhauser); SANP, 97, 1966, 149-151 (Morgenthaler).<br />

685 SANP, 47, 1941, 292-295.<br />

686 Jb. Waldau, 1920, 67.<br />

687 SLB VCH 2574, Protokoll des Schweizerischen Gesellschaft für <strong>Psychiatrie</strong>, 1933, 5f.<br />

688 SANP, 47, 1941, 297f.<br />

689 Vgl. Speyr, 1894; Speyr/Brauchli, 1894; Speyr/Brauchli 1894a; Speyr/Brauchli, 1895; Speyr, 1917; Glaser, 1888; Glaser, 1901;<br />

Good, 1910.<br />

690 Vorlesungsverzeichnisse Uni Bern, 1890–1920.<br />

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