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Psychiatrie und Strafjustiz

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Kontrollverlust. Die Figur des willenslosen Geistesgestörten, der ohne sein Zutun gegen die bürgerliche<br />

Gesellschaftsordnung verstiess, erhielt dadurch eine Bedeutung, die weit über die Rechtsfrage der Zurech-<br />

nungsfähigkeit hinausging.<br />

Psychiatrische Deutungen abweichenden <strong>und</strong> kriminellen Verhaltens unterschieden sich nicht zwangsläu-<br />

fig von den Einschätzungen medizinischer Laien. Gerade bei Fällen von psychischen Störungen, denen<br />

die <strong>Psychiatrie</strong> Krankheitswert zubilligte, zeigt sich, dass die betreffenden Personen oft auch von ihrer<br />

Umgebung <strong>und</strong> den Untersuchungsbehörden als «geisteskrank» angesehen wurden. In solchen «eindeuti-<br />

gen» Fällen beschränkte sich die Begutachtungstätigkeit sogar regelmässig auf einen reinen Krankheits-<br />

nachweis. Spezifische Züge erhielten psychiatrische Deutungsmuster dagegen bei «Grenzzuständen» wie<br />

latenten Psychosen, Fällen von «Schwachsinn» <strong>und</strong> bei «psychopathischen Persönlichkeiten». Mit dem<br />

Fokus auf die Fähigkeit zur Verinnerlichung von Normen sowie auf die Affekt- <strong>und</strong> Triebkontrolle orien-<br />

tierten sich die Psychiater zwar ebenfalls an einem bürgerlichen Wertekanon. Was ihre Qualifizierung von<br />

Normabweichungen als «krankhaft» betraf, unterschieden sie sich aber vergleichsweise häufig von der<br />

Einschätzung medizinischer Laien. Verstösse gegen rechtliche Normen <strong>und</strong> soziale Erwartungen, die von<br />

der davon unmittelbar betroffenen Umgebung oft als Zeichen einer bösen Absicht oder individuellen<br />

Nachlässigkeit gedeutet wurden, stellten in den Augen der Psychiater das Ergebnis einer krankhaft «ver-<br />

minderten Widerstandskraft» dar, die sie ihrerseits auf eine mangelhafte erbliche Anlage zurückführten.<br />

Ausgesprochen deutlich kommt diese Tendenz zur Pathologisierung sozialer Devianz im Zusammenhang<br />

mit dem Deutungsmuster der «psychopathischen Persönlichkeit» zum Ausdruck. In den Augen der Psy-<br />

chiater waren «Psychopathen» Individuen, die aufgr<strong>und</strong> ihrer «abnormen Veranlagung» zwangsläufig mit<br />

den Normen der Gesellschaft in Konflikt kommen mussten. Indem die Sachverständigen, aber auch die<br />

Berner Justizbehörden mit grosser Regelmässigkeit auf das Psychopathiekonzept zurückgriffen, bedienten<br />

sie sich eines kognitiven Musters, mit dem sich kriminelles <strong>und</strong> deviantes Verhalten beinahe beliebig me-<br />

dikalisieren liess.<br />

Mit dem in der Tradition der Spezialmanien stehenden Modells einer «verminderten Widerstandskraft»<br />

liessen sich Normverstösse, mangelhafte intellektuelle Fähigkeiten, eine unzureichende Affekt- <strong>und</strong> Trieb-<br />

kontrolle, sowie «minderwertige Anlagen» zu in sich plausibel Ausdeutungen von Straftaten integrieren.<br />

Damit verb<strong>und</strong>en war eine Reaktivierung der Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses, die unter<br />

umgekehrten Vorzeichen auf die Unfähigkeit einzelner Individuen hinwies, sich im Rahmen der bürgerli-<br />

chen Rechts- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung zu bewegen. Die betroffenen StraftäterInnen erschienen dadurch<br />

als pathologische Individuen, deren Handeln durch eine «abnorme» Veranlagung determiniert wurde.<br />

Neuere psychiatrische Deutungsmuster wie das Psychopathiekonzept erlaubten, kriminellem Verhalten,<br />

das bei medizinischen Laien als Ausdruck einer schuldhaften Verfehlung galt, ein medizinisches Gesicht<br />

zu geben <strong>und</strong> damit die Grenzziehung zwischen «Normalität» <strong>und</strong> «Abnormität» zugunsten des Pathologischen<br />

zu verschieben. Für die betroffenen StraftäterInnen bedeutete dies, dass ihnen der Status eines<br />

selbstverantwortlichen Rechtssubjekts abgesprochen wurde <strong>und</strong> sie sich einem neuen institutionellen<br />

Zugriff durch einen psychiatrischen Massnahmenvollzug ausgesetzt sahen. In der forensisch-<br />

psychiatrischen Praxis der Jahrh<strong>und</strong>ertwende hatte sich die Gefährdungssematik, die am Anfang des bür-<br />

gerlichen Diskurses um psychische Abweichungen gestanden hatten, denn auch weitgehend verflüchtigt.<br />

An die Stelle einer ein- <strong>und</strong> mitfühlenden Diskursivierung krankhafter <strong>und</strong> die Willensfreiheit beeinträch-<br />

tigender «Gemütszustände» war eine Pathologisierung abweichenden Verhaltens getreten, welche die Sub-<br />

jektivität der ExplorandInnen <strong>und</strong> ihre lebensweltliche Herkunft hinter Diagnosen wie «Haltlosigkeit»<br />

oder «moralischem Schwachsinn» weitgehend, wenngleich nicht gänzlich zum Verschwinden brachte.<br />

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