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Psychiatrie und Strafjustiz

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«gefährliche» Charakter des Exploranden ergab sich für die Sachverständigen aus dem unveränderlichen<br />

oder sich tendenziell sogar verschlimmernden Krankheitszustand. Wenngleich im Fall des geisteskranken<br />

Friedrich H. das Gutachten eine engere Beziehung zwischen Krankheitsbild <strong>und</strong> «Gemeingefährlichkeit»<br />

herstellte als in den oben analysierten «Grenzfällen», so verlangte auch hier die Beurteilung der «Gemein-<br />

gefährlichkeit» den Sachverständigen eine spezielle Transformationsleistung ab. Ein unmittelbares Gleich-<br />

setzen von medizinischer Geisteskrankheit <strong>und</strong> juristisch-administrativer «Gemeingefährlichkeit», wie es<br />

beispielsweise deutsche Psychiater forderten, lässt sich in der forensisch-psychiatrischen Praxis im Kanton<br />

Bern denn auch kaum feststellen. 1194<br />

«Haltlosigkeit» <strong>und</strong> «Einsichtslosigkeit»<br />

Wie anhand der Fälle von Ernst S. <strong>und</strong> Fritz W. gezeigt werden kann, war die Beurteilung der Rückfalls-<br />

erwartungen durch die Psychiater eng mit den Deutungsmustern der «Haltlosigkeit» oder des «moralischen<br />

Schwachsinns» verb<strong>und</strong>en, die von einer Schädigung der affektiven <strong>und</strong> voluntativen psychischen Funkti-<br />

onen ausgingen. Der psychiatrische Diskurs um die «Gemeingefährlichkeit» schloss damit eng an die im<br />

Zusammenhang mit der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit zum Tragen kommenden Deutungsmus-<br />

tern an. 1195 Wie im Fall der Zurechnungsfähigkeit reproduzierten psychiatrische Ausdeutungen der «Ge-<br />

meingefährlichkeit» gesellschaftliche Normvorstellungen wie die Postulate der Selbstbeherrschung <strong>und</strong> der<br />

«sittlichen Selbstführung». In der psychiatrischen Perspektive ergab sich folglich eine enge Beziehung<br />

zwischen der (teilweise) fehlenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit <strong>und</strong> der «Gemeingefährlichkeit»<br />

von DelinquentInnen. StraftäterInnen, deren mangelhafte Trieb- <strong>und</strong> Affektkontrolle eine vollständige<br />

strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschloss, erhielten zusätzlich das Stigma, künftig eine potenzielle «Ge-<br />

fahr» für die «öffentliche Sicherheit» darzustellen. Das Ineinandergreifen dieser beiden Diskursstränge<br />

liefert zugleich eine Erklärung für die festgestellte zeitparallele Ausweitung der Begutachtungs- <strong>und</strong> Mass-<br />

nahmenpraxis. Das Vorhandensein eines medizinisch-psychiatrischen Deutungsrahmens war demnach<br />

eine wesentliche Voraussetzung, dass sich in einem konkreten Fall eine «Gemeingefährlichkeit» gemäss<br />

Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs konstatieren <strong>und</strong> eine sichernde Massnahme verhängen liess. Auf-<br />

gezeigt wird deshalb im Folgenden die Begründung von Rückfallsprognosen durch die Sachverständige<br />

mittels der in Kapitel 7.5 analysierten psychiatrischen Deutungsmustern.<br />

Ernst S. war angeklagt, sich an einem Jugendlichen auf «widernatürliche» Weise vergriffen zu haben. Er.<br />

hatte den 19jährigen G. <strong>und</strong> dessen Kollegen im November 1903 ins Berner Restaurant «Dählhölzli» ein-<br />

geladen. Wie das psychiatrische Gutachten festhielt, «umarmte <strong>und</strong> küsste [er] dann den G., als er sich mit<br />

ihm allein <strong>und</strong> unbeobachtet wähnte <strong>und</strong> griff ihm an die Geschlechtsteile». 1196 Als G. zu schreien anfing,<br />

eilten seine Kollegen herbei <strong>und</strong> hielten Ernst S. fest, bis dieser festgenommen wurde. Bei den Verneh-<br />

mungen ergab sich, dass Ernst S. bereits im Vorjahr einen der Jugendlichen zu sexuellen Handlungen<br />

aufgefordert <strong>und</strong> einige Tage zuvor einem 14jährigen Knaben Geld versprochen hatte, wenn er ihm zu<br />

Diensten sein wolle. Zentral für die Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» von Ernst S. durch die Sach-<br />

verständigen wurde dessen Lebensgeschichte. Anhand von Befragungen <strong>und</strong> eines von Ernst S. selbst<br />

verfassten Lebenslaufs rekonstruierten die Psychiater akribisch dessen sexuelle Entwicklung <strong>und</strong> berufli-<br />

chen Werdegang.<br />

Nach Abschluss der Schule <strong>und</strong> dem erzwungenen Aufgeben seines Wunschberufs als Zeichner hatte<br />

Ernst S. zunächst in einem Eisenbergwerk gearbeitet, um danach eine Lehre als Coiffeur zu absolvieren.<br />

1194 Vgl. Göring, 1915, 4, 95.<br />

1195 Vgl. Kp. 7.5.<br />

1196 StAB Bez. Bern B, Band 3263, Dossier 628, Gutachten über Ernst S., 2. Februar 1904.<br />

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