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Psychiatrie und Strafjustiz

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andInnen getestet werden. 833 Nach 1910 verwendeten die Berner Psychiater zunehmend standardisierte<br />

Testfragen. 834 In einem der untersuchten Fälle aus dem Jahre 1918 stellten die Psychiater der Waldau zu-<br />

sätzlich ein Assoziationsexperiment an. 835 Die Prüfung der Schulkenntnisse <strong>und</strong> die späteren Testverfah-<br />

ren dienten vor allem dem Diagnostizieren von «Schwachsinn» <strong>und</strong> waren geprägt vom Bemühen, straf-<br />

rechtlich relevant erscheinende Intelligenzdefizite zuverlässig zu bestimmen <strong>und</strong> ihre graduelle Abwei-<br />

chung von der Norm festzustellen. Wie im Zusammenhang mit dem Diagnostizieren von «Schwachsinn»<br />

im Detail gezeigt werden soll, orientierten sich solche Testverfahren überaus stark an bürgerlichen Bil-<br />

dungs- <strong>und</strong> Verhaltensnormen. Dass diese soziale <strong>und</strong> kulturelle Konditionierung der psychiatrischen<br />

Testmethoden von den Exploranden selbst empf<strong>und</strong>en wurde, zeigt sich in einem Brief, den die wegen<br />

Kindsmord angeklagte Fabrikarbeiterin Marie S. ihrem Verteidiger aus Bellelay schrieb: «Und eine Schul-<br />

lehrerin kann <strong>und</strong> will ich nicht werden, so viel bin ich gar nicht zur Schule gegangen, dass ich noch alles<br />

weiss, was ich gelernt hatte. [...] Denn als ein Landkind hatte ich noch andere Sachen zu tun. Wenn dann<br />

wieder Schule war, so hatte man viel vergessen.» 836 Der Brief von Marie S. verdeutlicht, dass sich bei Ge-<br />

sprächen zwischen Sachverständigen <strong>und</strong> ExplorandInnen in den meisten Fällen Angehörige verschiede-<br />

ner Schichten gegenüberstanden <strong>und</strong> dadurch unterschiedliche kulturelle <strong>und</strong> ökonomische Hintergründe<br />

aufeinander prallten. Was die Sachverständigen anbelangte, sahen sich Frauen zudem ausschliesslich mit<br />

Angehörigen des andern Geschlechts konfrontiert.<br />

Der Blick auf den Körper: Organische Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> «Degenerationszeichen»<br />

In der Regel untersuchten die <strong>Psychiatrie</strong>ärzte ihre ExplorandInnen auch körperlich. Entsprechende Bef<strong>und</strong>e<br />

finden sich in den meisten Gutachten. Typisch für die Berner Gutachten sind auch in dieser Hin-<br />

sicht die Feststellungen der Sachverständigen im Fall von Johann G.: «Gegenwärtig ist G. gut genährt,<br />

aber von blasser Farbe <strong>und</strong> aufgedunsener Gesichtshaut mit breiter Nase, wie sie skrophulösen Menschen<br />

eigen ist. Am Schädel keine Bildungsanomalien; die Sinnesorgane funktionieren befriedigend. Die Zunge<br />

ist rein, zittert nicht beim Vorstrecken; die Herztätigkeit beschleunigt. 120 Schläge pro Minute. Das Herz<br />

etwas vergrössert, lässt beim ersten Ton an der Spitze ein leichtes Geräusch vernehmen. An den übrigen<br />

Organen nichts Krankhaftes wahrnehmbar. Die Sehnenreflexe, besonders an den Kniescheiben, erhöht.<br />

Der Appetit ist gut, dagegen klagt G. über Kopfschmerzen <strong>und</strong> mangelhaften Schlaf.» 837 Solche <strong>und</strong> ähnli-<br />

che Anamnesen des körperlichen Zustands dürften sich kaum von denjenigen unterschieden haben, wie<br />

sie um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende von praktizierenden Ärzten täglich vorgenommen wurden. Wie ihre nicht<br />

spezialisierten Kollegen registrierten die Psychiater den Ernährungszustand der Exploranden, Anomalien<br />

des Körperbaus <strong>und</strong> der Herztätigkeit, Hinweise auf Krankheiten wie Tuberkulose oder auf Mangeler-<br />

scheinungen wie Blutarmut sowie körperliche Behinderungen. Bei Frauen erhoben sie zudem regelmässig<br />

Angaben zur Menstruation. 838 Bei beiden Geschlechtern prüften sie die Körperreflexe.<br />

Die Hinweise des Gutachtens über Johann G. auf dessen «breite Nase» <strong>und</strong> (nicht vorhandene) «Schädel-<br />

anomalien» werfen die Frage auf, welche Bedeutung die Berner Psychiater bei der Anamnese einzelnen<br />

äusseren Körpermerkmalen, den so genannten «Degenerationszeichen», beimassen. Merkmale wie ange-<br />

wachsene Ohrläppchen, Missbildungen der Schädel- oder Gesichtsform, Hasenscharten, fehlender Bart-<br />

wuchs bei Männern <strong>und</strong> Bartwuchs bei Frauen oder Missbildungen der äusseren Geschlechtsorgane wur-<br />

833 Vgl. UPD KG 8653, Psychiatrisches Gutachten über Adelheid H., 17. Juli 1920.<br />

834 Vgl. Kp. 7.52.<br />

835 StAB BB 15.4, Band 2072, Dossier 1735, Psychiatrisches Gutachten über Eugène C., 16. Januar 1918. Zur Verwendung des<br />

Assoziationstests in der Berner <strong>Psychiatrie</strong>: Good, 1920, 16-20.<br />

836 StAB BB 15.4, Band 1855, Dossier 619, Marie S. an ihren Verteidiger, 28. Mai 1908.<br />

837 StAB BB 15.4, Band 1651, Dossier 8910, Psychiatrisches Gutachten über Johann G., 9. Dezember 1897.<br />

838 Vgl. Kp. 7.6.<br />

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