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Psychiatrie und Strafjustiz

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ein taubstummes Mädchen in den Flammen umgekommen war. Nach dem Tod seiner Frau im Jahre 1894<br />

war Andreas F. in Konflikt mit seinem Hauseigentümer geraten <strong>und</strong> musste schliesslich seinen Beruf auf-<br />

geben. Durch die Gemeinde wurde er daraufhin mehrmals in Arbeits- <strong>und</strong> Armenanstalten versorgt. Wie<br />

er den Sachverständigen erzählte, habe er den Brand aus «Ärger über die ihm bisher durch die Gemeinde<br />

Oberburg erfahrene Behandlung» gelegt <strong>und</strong> dabei gehofft, Gelegenheit zu bekommen, sich «vor dem<br />

Richter zu beschweren <strong>und</strong> seine Forderungen an Gemeinde <strong>und</strong> Staat geltend zu machen».<br />

Gestützt auf die Angaben von Andreas F., konstatierte das psychiatrische Gutachten einen eigentlichen<br />

Bruch in dessen Lebenslauf: «Für F.’s Charakterentwicklung scheint das Jahr 1894 ein Wendepunkt ge-<br />

worden zu sein. [...] Wenn also auch F. schon in früherer Zeit nicht den tadelloseste Lebenswandel führte,<br />

so gab dieser doch während der Zeit seiner Ehe <strong>und</strong> des Betriebes seines Gewerbes seltener <strong>und</strong> zu leich-<br />

teren Strafen Anlass als später <strong>und</strong> die Akten, wie die Aussagen dritter Personen zeugen nicht gegen F.’s<br />

Behauptung, dass er damals sich <strong>und</strong> seine Frau zu erhalten vermochte, ohne der Gemeinde lästig zu wer-<br />

den <strong>und</strong> dass sein Benehmen zu Lebzeiten seiner Frau wenigstens noch ein erträgliches war. Nach dem<br />

Tode der letzteren trat darin eine sehr erhebliche Wandlung zum Schlimmeren ein. F. hatte damit die äussere<br />

Stütze, die ihn bisher noch gehalten hatte, verloren <strong>und</strong> er scheint von nun an jede regelmässige Be-<br />

schäftigung aufgegeben zu haben <strong>und</strong> ein rechter Vagab<strong>und</strong> <strong>und</strong> Schnapser geworden zu sein. Er selbst<br />

muss dies in der Hauptsache zugeben, seine verschiedenen Gesetzesübertretungen, der Leum<strong>und</strong> der<br />

Gemeinde, überhaupt die Darstellung seines Verhaltens in den Akten beweisen es zweifelhaft. Er verübte<br />

seither eine ganze Menge boshafter Streiche, für die er zunächst Andere als Täter angab, während es sich<br />

regelmässig herausstellte, dass er sie selbst ausgeführt [hatte].» 897 Im Gegensatz zum Fall von Friedrich H.<br />

deuteten die Sachverständigen die «Wandlung zum Schlimmeren» im Lebenslauf von Andreas F. <strong>und</strong> die<br />

daran anschliessenden sozialen Verfehlungen – die Häufung der Strafen, die Aufgabe einer geregelten<br />

Beschäftigung, das Umherziehen <strong>und</strong> die Streiche – nicht explizit als das Resultat eines fortschreitenden<br />

Krankheitsprozesses. Vielmehr stellten sie den Werdegang von Andreas F. als einen Prozess einer morali-<br />

schen Verrohung dar. Diese Einschätzung deckte sich mit derjenige von verschiedenen Zeugen. So folgte<br />

die Charakterisierung von Andreas F. durch den Gemeinderat von Oberburg ganz einer moralischen<br />

Sichtweise: «Er ist ein arbeitsscheuer, schlecht beleum<strong>und</strong>eter Mensch. Ist geistig etwas beschränkt, mit<br />

einer geradezu raffinierten Bosheit, die sich darin k<strong>und</strong>gibt, dass F. auf alle mögliche Weisen seine Mit-<br />

menschen zu schädigen versucht.» 898<br />

Geisteskrankheit <strong>und</strong> Verbrechen<br />

Für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit war es entscheidend, wie die Sachverständigen die gezeich-<br />

neten Krankheitsverläufe- <strong>und</strong> -bilder mit den eingeklagten Straftaten in Verbindung brachten. Ein Ver-<br />

gleich der beiden untersuchten Fälle zeigt, dass dies auf unterschiedliche Weise geschehen konnte. Bei<br />

Andreas F. stellten die Sachverständigen eine «Gemütsstumpfheit» <strong>und</strong> «Geistesschwäche» fest, die sich in<br />

einer «Teilnahmslosigkeit gegen seine Umgebung» <strong>und</strong> einer «langsamen Auffassung» niederschlug. Was in<br />

Ihren Augen aber die Krankhaftigkeit seiner Tat ausmachte, war ein «weitläufiges System von Wahn-<br />

ideen», das «er sich schon seit mehreren Jahren allmählich scheint ausgesonnen zu haben». So hatte And-<br />

reas F. gegenüber den Sachverständigen behauptet, dass ihm Kinder aus der Gemeinde Oberburg über<br />

zwölf Jahre hinweg «Schlemperlige» nachgerufen hätten. Er fordere deshalb von der Gemeinde eine Ent-<br />

schädigung von 2048 Millionen Franken. Bevor er aber seine Forderung gegenüber der Gemeinde geltend<br />

machen könne, verlange er auch vom Kanton Bern eine Entschädigung von 150’000 Franken für die un-<br />

897 PZM KG 1194, Psychiatrisches Gutachten über Andreas F., 23. September 1898.<br />

898 PZM KG 1194, Psychiatrisches Gutachten über Andreas F., 23. September 1898, Aussage des Gemeinderats von Oberburg.<br />

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