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Psychiatrie und Strafjustiz

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somit auch in der Schweiz eine Strafrechtsreformbewegung, die sich das Schlagwort einer wirksamen<br />

Verbrechensbekämpfung des Verbrechens <strong>und</strong> den Ersatz des Schuldstrafrechts durch eine regulative<br />

Kriminalpolitik auf die Banner zu Eigen machte.<br />

Auch für die Schweizer Strafrechtsreformer stellten Medikalisierungspostulate wichtige Elemente inner-<br />

halb der von ihnen vorangetriebenen Lernprozesse dar. Sie erblickten in einer intensivierten Zusammen-<br />

arbeit zwischen Juristen <strong>und</strong> Medizinern eine unabdingbare Voraussetzung, um die postulierte Schwer-<br />

punktverlagerung von einem tatfixierten zu einem mehr täterorientierten Strafrecht in die Praxis umsetzen<br />

zu können. Diese Bereitschaft zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit kam sowohl im Bereich der<br />

wissenschaftlichen Publizistik, als auch der Rechtspolitik zum Ausdruck. Eine zentrale Rolle bei diesem<br />

interdisziplinären Annäherungsprozess spielte die von Stooss 1888 gegründete Schweizerische Zeitschrift für<br />

Strafrecht. Trotz ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber medizinisch-psychiatrischen Deutungsmustern, Be-<br />

handlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepten waren die massgebenden Strafrechtsreformer jedoch kaum ge-<br />

neigt, die Gr<strong>und</strong>lagen des Schuldstrafrechts gänzlich preiszugeben. Eine strukturelle Koppelung zwischen<br />

den Bezugssystemen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> sollte in ihren Augen auch künftig primär über den<br />

Rechtsbegriff der Zurechnungsfähigkeit erfolgen. Eine Preisgabe der herkömmlichen Arbeitsteilung zwi-<br />

schen den beiden Disziplinen, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts herausgebildet hatte, stand für<br />

die Mehrheit der Strafrechtsreformer nicht ernstlich zur Diskussion. Dies nicht zuletzt deshalb, weil weder<br />

in der juristischen scientific community, noch auf der politischen Ebene eine Mehrheit für eine radikale Um-<br />

gestaltung des Strafrechts zu gewinnen war. Um die Realisierung der Rechtseinheit, die die Hürde einer<br />

Volksabstimmung zu nehmen hatte, nicht aufs Spiel zu setzen, begnügten sich die Strafrechtsreformer mit<br />

einer pragmatischen Integration einzelner sichernder Massnahmen in das künftige Einheitsstrafrecht.<br />

Ebenfalls aus Rücksicht auf die Gegner der Rechtseinheit, die sich vor allem aus dem katholisch-<br />

konservativen Lager sowie aus der Romandie rekrutierten, blieben das Strafprozessrecht <strong>und</strong> der Straf-<br />

vollzug von der Vereinheitlichung ausgespart. Die von Stooss im Vorentwurf von 1893 konzipierte Zwei-<br />

spurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen steckte schliesslich den Rahmen für eine partielle Medikalisierung<br />

des Strafrechts ab. Medizinische Behandlungs- <strong>und</strong> Versorgungskonzepte beschränkten sich darin im<br />

Wesentlichen auf sichernde Massnahmen gegen strafrechtlich nicht oder nur teilweise verantwortliche<br />

StraftäterInnen. Nur in diesen Fällen sollte nach dem Willen der Reformer ein medizinischer Zugriff die<br />

traditionelle strafrechtliche Repression ablösen. Keine eigentliche Medikalisierung sah der Vorentwurf im<br />

Fall der sichernden Massnahmen gegen «Gewohnheitsverbrecher» <strong>und</strong> «liederliche» DelinquentInnen vor.<br />

Diese sollten über das gewohnte Strafmass hinaus verwahrt werden, ohne jedoch in den Genuss einer<br />

medizinischen Behandlung zu gelangen. Der grosse Rest der «normalen» StraftäterInnen sollte hingegen<br />

weiterhin dem regulären, wenngleich reformierten Strafvollzug zugeführt werden. Dass sich diese Re-<br />

formkonzeption auch über den Kreis der Strafrechtsreformer hinaus als konsensfähig erwies, zeigt sich<br />

darin, dass die Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen nicht nur den Schweizer «Schulenstreit»<br />

überstand, sondern auch weitgehend unverändert Eingang in die b<strong>und</strong>esrätliche Botschaft von 1918 fand.<br />

Das Interesse der Schweizer Psychiater an der Strafrechtsreform wurde massgeblich durch zwei Faktoren<br />

bestimmt. Zum einen sahen sich die Psychiater als Sachverständige vor Gericht regelmässig mit strafrecht-<br />

lichen Fragen konfrontiert, zum andern erklärten führende Exponenten der Schweizer <strong>Psychiatrie</strong> die<br />

Strafrechtsreform zu einem disciplinary project, von dem sie sich Impulse für eine umfassende Sozialreform<br />

<strong>und</strong> eine Ausweitung des psychiatrischen Einflussbereichs über die Anstaltsmauern hinaus erhofften. Psy-<br />

chiater wie Auguste Forel oder Eugen Bleuler gehörten zu den Vorreitern einer radikalen Kriminalpolitik,<br />

die im Sinn der Kriminalanthropologen auf eine weitgehende Medikalisierung des Strafrechts abzielte.<br />

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