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Psychiatrie und Strafjustiz

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phie <strong>und</strong> zur Geschichte der alten Eidgenossenschaft orientierten sich einseitig am hegemonialen Bil-<br />

dungshorizont des Bürgertums, das in landesk<strong>und</strong>lichen Schulkenntnissen ein wichtiger Moment der nati-<br />

onalen Identitätsstiftung sah. 918 Solche Testsituationen verdeutlichen, dass sich mit den Psychiatern <strong>und</strong><br />

den meist aus den (ländlichen) Unterschichten stammenden ExplorandInnen oft Angehörige zweier<br />

Schichten gegenüberstanden, die über unterschiedliche soziokulturelle Hintergründe verfügten. Zusätzlich<br />

transportierten die psychiatrischen Testverfahren geschlechtsspezifische Normalitätsvorstellungen. So<br />

fragten die Sachverständigen Emilia R., von der sie wussten, dass sie drei Mal unehelich geboren hatte,<br />

nach der Bedeutung der «Jungfräulichkeit». Diese Frage verwirrte die Explorandin denn auch sichtlich:<br />

«Sie hat grosse Mühe, sich auszudrücken, aber sie spricht doch von fille, innocente, sie selber sei bis zu<br />

ihrer ersten Geburt fille, nicht vièrge gewesen.» Diese aus der persönlichen Lebenserfahrung geschöpfte<br />

Antwort kommentierte das Gutachten umgehend mit der Bemerkung: «Dabei kommt heraus, dass sie<br />

doch schon vor dem ersten Kinde mit einem Manne zu tun gehabt habe, der nicht Vater geworden sei<br />

[...].» 919 Wenngleich die Psychiater Emilia R. zugute hielten, dass sie sich bei ihren Sexualbeziehungen im-<br />

mer (vergebens) um eine Ehe bemüht hatte, mutierte das Wissensexamen hier doch zu einer Überprüfung<br />

des Lebenswandels der Explorandin im Hinblick auf die herrschende Sexualmoral.<br />

Männer wurden im Gegenzug deutlich häufiger als Frauen auf ihr staatsbürgerliches Wissen geprüft. So<br />

hiess es in einem Gutachten der Waldau aus dem Jahre 1913: «J. weiss, dass es einen B<strong>und</strong>esrat <strong>und</strong> Regie-<br />

rungsrat gebe, diese regieren mit einem Ständerat alles, es gibt nur einen B<strong>und</strong>esrat (1 Mitglied) <strong>und</strong> einen<br />

Regierungsrat, der regiert das Statthalteramt, es ist der Burren. J. weiss nicht, dass man stimmen kann, er<br />

habe nichts davon gehört, auch von politischen Parteien wisse er nichts, er habe einmal etwas von Sozial-<br />

demokraten gelesen, wisse aber nicht, was das sei, er sei Republikaner.» 920 Solche Antworteten waren für<br />

die Psychiater Zeichen eines «engen geistigen Horizonts», das heisst ein Beleg für fehlendes Interessen an<br />

Dingen, die über den unmittelbaren Alltag der ExplorandInnen hinausgingen. 921 Fragen über die politi-<br />

schen Behörden oder das Stimm- <strong>und</strong> Wahlrecht waren durch das Ideal des männlichen Staatsbürgers<br />

konditioniert, der an der politischen Meinungsbildung partizipierte. Bezeichnenderweise befragten die<br />

Sachverständigen Frauen kaum je ausführlich über Staatsk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> politische Tagesfragen. 922 Durch die<br />

geschlechtsspezifische Auswahl einzelner Testfragen reproduzierten die psychiatrischen Testverfahren die<br />

bürgerliche Geschlechterordnung <strong>und</strong> stabilisierten deren normativen Leitbilder, namentlich die Segregation<br />

männlicher <strong>und</strong> weiblicher Lebens- <strong>und</strong> Wirkungsräume. 923 Dies hatte zur Folge, dass ExplorandIn-<br />

nen, deren Lebenswandel den Ansprüchen des bürgerlichen Bildungshorizonts <strong>und</strong> der bürgerlichen Ge-<br />

schlechterordnung nicht zu entsprechen vermochten, Gefahr liefen, als «schwachsinnig» stigmatisiert zu<br />

werden.<br />

Spätestens um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende setzte allerdings innerhalb der <strong>Psychiatrie</strong> eine wachsende Kritik an<br />

einer vorschnellen Gleichsetzung von Schulwissen mit «Begabung» oder «Intelligenz» ein. So hielt der<br />

deutsche Psychiater Theodor Ziehen (1862–1950) 1911 fest: «Wenn jemand ein geringes Schulwissen hat,<br />

so muss dies nicht mit auf einen Defekt der Retention [Gedächtnisleistung] beruhen, es kann z.B. ebenso<br />

918 Zur «schulischen Konstruktion der Nation» im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert: Criblez/Hofstetter, 1998, 169, 172-180, 183.<br />

919 StAB BB 15.4, Band 1753, Dossier 9735, Psychiatrisches Gutachten über Emilia R., 1. Oktober 1903.<br />

920 UPD KG 7965, Psychiatrisches Gutachten über Fernand Louis J, 28. Oktober 1913. Gemeint war der seinerzeitige Berner<br />

Regierungsrat Friedrich Burren. Vgl. ebenfalls: PZM KG 4979, Psychiatrisches Gutachten über Ernst S., 13. Dezember 1918.<br />

921 So etwa: UPD KG 6422, Psychiatrisches Gutachten über Jakob R., o.D., [1908].<br />

922 Die einzige diesbezügliche Ausnahme im Sample ist das Gutachten über Marie S. Bezeichnenderweise heisst es dort: «Von<br />

Verfassungsk<strong>und</strong>e hat sie keine Ahnung. In der Hausarbeit hat sie sich als gute, fleissige Arbeiterin erwiesen [...]»; StAB BB 15.4,<br />

Band 1855, Dossier 619, Psychiatrisches Gutachten über Marie S., 9. September 1908. Zum Ausschluss von Mädchen aus dem<br />

Staatsk<strong>und</strong>eunterricht: Criblez/Hofstetter, 1998, 173.<br />

923 Vgl. Frevert, 1995; Hausen, 1976.<br />

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