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Psychiatrie und Strafjustiz

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allgemeinen Verhaltens [...]. Wenn aber das Einschreiten sich auf das allgemeine Verhalten stützt, durch<br />

welches die Gesellschaft <strong>und</strong> die öffentliche Wohlfahrt gefährdet wird, so steht es der Administrativbe-<br />

hörde zu, die Versetzung in eine Arbeitsanstalt auszusprechen.» 1143<br />

Fazit: «Gemeingefährlichkeit» als Kategorie der administrativ-juristischen Praxis<br />

Sichernde Massnahmen aufgr<strong>und</strong> von Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs fanden ihre Begründung in<br />

der «Gemeingefährlichkeit» unzurechnungsfähiger <strong>und</strong> deshalb freizusprechender StraftäterInnen. Die<br />

Berufung auf die «öffentliche Sicherheit» schuf eine enge funktionale Beziehung zu den Einweisungsbe-<br />

stimmungen der Irrenanstalten <strong>und</strong> zur Armenpolizeigesetzgebung. In dieser Perspektive ergänzte Artikel<br />

47 zunächst lediglich die Regelung der polizeilichen Aufnahme in die Waldau. Mit dem Aufbau einer ei-<br />

gentlichen Administrativjustiz wurde die Bestimmung durch Verweise im Gesetz über die Arbeitsanstalten<br />

von 1884 <strong>und</strong> im Armenpolizeigesetz von 1912 in ein umfassendes Dispositiv sichernder Administrativ-<br />

massnahmen eingeb<strong>und</strong>en. Zentrale Bezugspunkte des Dispositivs bildeten die Begriffe der «Gemeinge-<br />

fährlichkeit» <strong>und</strong> der «öffentlichen Ordnung». Die kriminalpolitischen Zwecke der Prävention <strong>und</strong> der<br />

Effizienz rechtfertigten in den Augen der Behörden beträchtliche Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte<br />

der Betroffenen. Durch seine unscharfen Konturen war der Begriff der «Gemeingefährlichkeit» – wie<br />

später derjenige der «Verwahrlosung» – wie geschaffen, um einen dringlichen Interventionsbedarf zu sug-<br />

gerieren <strong>und</strong> den Vollzug sichernder Massnahmen zu legitimieren. 1144 Selbst ein Produkt der administrativ-<br />

rechtlichen Praxis, rechtfertigte er nicht nur die sukzessive Ausweitung der in den Blick genommenen<br />

Gefährdungszonen, sondern strukturierte zugleich die Wahrnehmung der Behörden im Einzelfall.<br />

8.2 Die Massnahmenpraxis im Kanton Bern 1895–1920<br />

Anhand der Regierungsratsbeschlüsse über die Anwendung von Artikel 47 des Strafgesetzbuchs lässt sich<br />

die Entwicklung der Praxis sichernder Massnahmen im Kanton Bern rekonstruieren. Seit 1895 liegen diese<br />

Beschlüsse gedruckt vor <strong>und</strong> enthalten ausführliche Angaben über die verhängten Massnahmen. 1145 Das<br />

Beschlussdispositiv fasst in der Regel den Überweisungsbeschlusses der antragstellenden Justizbehörden<br />

zusammen <strong>und</strong> enthält Angaben über die von den psychiatrischen Sachverständigen gestellten Diagnosen,<br />

die begangenen Delikte sowie über die Art der angeordneten sichernden Massnahmen.<br />

Die Entwicklung der Massnahmenpraxis<br />

Zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920 stellten die Berner Justizbehörden in 323 Fällen Anträge auf sichernde Mass-<br />

nahmen aufgr<strong>und</strong> Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs. Im gleichen Zeitraum erstellten die Berner Irrenanstalten<br />

nachweislich 711 Gutachten über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von DelinquentIn-<br />

nen. Somit wurden fast in jedem zweiten Begutachtungsfall sichernde Massnahmen beantragt. Von den<br />

323 Anträgen betrafen 59 (18,3%) Frauen. Dies entspricht weitgehend dem Frauenanteil bei den Begut-<br />

achtungen. Gegen psychiatrisch begutachtete Männer <strong>und</strong> Frauen wurden somit ungefähr gleich häufig<br />

sichernde Massnahmen beantragt.<br />

1143 TBGR, 1912, 56.<br />

1144 Zum Begriff der «Verwahrlosung»: Ramsauer, 2000, 205-207.<br />

1145 StAB A II, Bände 1452-1494. Die folgenden Auswertungen stützen sich, wenn nicht anderes vermerkt ist, auf diese Protokollbände,<br />

die jeweils durch ein Register erschlossen sind. Die hier erhobenen Daten weichen für einzelne Jahre geringfügig von<br />

den im Staatsverwaltungsbericht der Berner Regierung enthaltenen Angaben ab.<br />

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