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Psychiatrie und Strafjustiz

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logischen Diensts» in bayerischen Strafanstalten zu Beginn der 1920er Jahren eine Konsequenz von Re-<br />

formbemühungen, die auf eine Individualisierung des Strafvollzugs abzielten. 1591 Auch das Massnahmen-<br />

recht des schweizerischen Strafgesetzbuchs erhöhte die Wissensbedürfnisse der Strafvollzugsbehörden,<br />

galt es doch den Vollzug der Massnahmen künftig verstärkt auf die Persönlichkeit der DelinquentInnen<br />

abzustimmen. Die Verfügbarkeit eines psychiatrischen Straf- <strong>und</strong> Disziplinarwissens wurde dadurch zur<br />

Voraussetzung für einen im Sinne des Gesetzes erfolgreichen Massnahmenvollzug, der je nach Fall die<br />

«Besserung» oder «Unschädlichmachung» von DelinquentInnen bewirken sollte. Aus der Sicht der Straf-<br />

vollzugsbehörden stellten regelmässige psychiatrische Untersuchungen von Häftlingen somit wichtige<br />

Hilfsmittel zur Implementierung eines individualisierten Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzugs dar, wie er vom<br />

neuen Strafgesetzbuch gefordert wurde. Aufgr<strong>und</strong> der untersuchten Sprechst<strong>und</strong>eberichte lassen sich grob<br />

zwei Problemlagen herausarbeiten, zu deren Handhabung die Anstaltsleitung von Witzwil auf das psychi-<br />

atrische Spezialwissen zurückgriff. Zum einen ging es dabei um den Umgang mit psychischen Auffälligkei-<br />

ten von Häftlingen wie Anzeichen von Geistesstörungen, Flucht- <strong>und</strong> Selbstmordversuche, welche einen<br />

reibungslosen Strafvollzug in Frage stellten. Zugleich wollte die Anstaltsleitung um jeden Preis verhindern,<br />

dass sich einzelne Häftlinge durch vorgetäuschte Symptome Hafterleichterungen oder gar Versetzungen in<br />

andere Anstalten verschaffen konnten. Zum andern bediente sich die Anstaltsleitung des psychiatrischen<br />

Wissens bei Vollzugsentscheide wie Entlassungen oder Versetzungen. In solchen Fällen bekamen die<br />

Sprechst<strong>und</strong>eberichte über ihre rein sanitarische Funktion hinaus den Status eigentlicher Vollzugs- <strong>und</strong><br />

Selektionsempfehlungen.<br />

Im Fall des 25jährigen Joseph K., der sich wegen Eigentumsdelikten in Witzwil befand, war der Beizug<br />

des Psychiaters Ausdruck des Bemühens der Anstaltsleitung um einen reibungslosen Strafvollzug. Die Anstaltslei-<br />

tung liess Joseph K. nach verschiedenen Ausbruch- <strong>und</strong> Selbstmordversuchen ambulant untersuchen, um<br />

die Gefahr eines weiteren Suizidversuchs abzuschätzen. Joseph K. erklärte dem Psychiater, er sei «durch-<br />

gebrannt», weil er keine Post erhalten habe. Weshalb er die Mauer seiner Zelle durchbrechen wollte, wisse<br />

er hingegen selbst nicht. Während der Arbeit sei ihm «plötzlich in den Sinn gekommen, es sei doch nicht<br />

recht», woraufhin er versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Joseph K. wies darauf hin, dass er be-<br />

reits früher einen solchen Selbstmordversuch unternommen habe. In seinem Bericht verneinte Wyrsch<br />

das Vorliegen einer eigentlichen Geisteskrankheit. Er vermutete, dass die «asoziale Lebensführung» von<br />

Joseph K. auf dessen «stimmungslabilen, fahrigen, unbeherrschten Charakterart» sowie «neurotischen<br />

Momenten» beruhe. Eine Versetzung in eine Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt hielt er nicht für angebracht, da sich<br />

Joseph K. wieder in einer «gleichmütigen Stimmung» befände. Allerdings sei mit weiterhin mit ähnlichen<br />

«Verstimmungen» zu rechnen. Man müsse, so Wyrschs Rat zuhanden der Anstaltsleitung, Joseph K. des-<br />

halb «gut im Auge behalten». 1592 In ähnlicher Weise wie bei Joseph K. gab auch beim 34jährigen Hans P.<br />

eine Störung des Strafvollzugs Anlass zu einer psychiatrischen Untersuchung. Wyrsch befand in diesem<br />

Fall, dass die kürzliche «Rauferei» ganz zur «reizbaren, stimmungslabilen Art» des Exploranden passen<br />

würde. Dennoch empfahl er die bedingte Entlassung von Hans P. 1593<br />

In diesen <strong>und</strong> ähnlich gelagerten Fällen erwartete die Anstaltsleitung von Witzwil vom Psychiater Klarheit<br />

über die Ursachen eines groben Fehlverhaltens, welches das Mass einer für «normal» erachteten Renitenz<br />

überstieg. In den Augen der Psychiater liessen sich Verhaltensweisen, wie sie Joseph K. an den Tag gelegt<br />

hatte, jedoch nur ausnahmsweise auf schwere psychische Störungen zurückführen. So zeigte sich Wyrsch<br />

1947 in einem Referat vor der Aufsichtskommission über die Berner Strafanstalten überzeugt, dass «Reak-<br />

1591 Vgl. Kp. 9.1.<br />

1592 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Joseph K. an die Strafanstalt Witzwil, 1. Mai 1948.<br />

1593 StAB BB 4.2, Band 180, Bericht über Hans P. an die Strafanstalt Witzwil, 25. September 1947.<br />

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