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Psychiatrie und Strafjustiz

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«Lappalie». 1904 erteilte er seinem neuen Meister wiederum im Rausch einen Hieb mit einer Eisenstange,<br />

nachdem er aus Rache für eine Rüge seines Arbeitgebers Fenster <strong>und</strong> Glastüren zerschlagen hatte. Dafür<br />

wurde er zu sechs Monaten Korrektionshaus verurteilt. In den Augen der psychiatrischen Sachverständi-<br />

gen bewies die Tatsache, dass Gottfried A. nun erneut ein schweres Delikt begangen hatte, die Wirkungs-<br />

losigkeit der vergangenen Strafen. Sie erachteten Gottfried A. als unfähig, sein Verhalten unter dem Ein-<br />

druck der Strafe zu ändern.<br />

Fälle wie derjenige von Gottfried A. dienten den Psychiatern als Belege, dass reguläre Strafen die beab-<br />

sichtigte abschreckende oder bessernde Wirkung bei gewissen DelinquentInnen nicht zu erfüllen ver-<br />

mochten. Solche StraftäterInnen waren lebende Beweise für die von den Strafrechtsreformern kritisierte<br />

Ineffizienz eines Strafsystems, das in erster Linie rückwirkend auf das schuldhafte Begehen einer Straftat<br />

abstellte, respektive von einer Beeinflussbarkeit seitens der DelinquentInnen ausging. DelinquentInnen, an<br />

denen diese Voraussetzungen «abprallten», wie es im Gutachten zu Gottfried A. bezeichnenderweise hiess,<br />

bildeten gerade wegen ihrer Unzugänglichkeit für die abschreckende <strong>und</strong> bessernde Wirkung einer Strafe<br />

eine bleibende «Gefahr» für die Gesellschaft. Die «Gemeingefährlichkeit» eines Delinquenten war in der<br />

forensisch-psychiatrischen Praxis primär ein Äquivalent für die Erwartungswahrscheinlichkeit eines Rück-<br />

falls, der zugleich die Ineffizienz des bürgerlichen Strafrechts signalisierte. Die «Gemeingefährlichkeit» war<br />

in dieser Perspektive letztlich ein Effekt eines Diskurses über die Grenzen des Strafsystems. Wie bereits<br />

bei der statistischen Auswertung festgestellt werden konnte, war dabei nicht in erster Linie die Schwere<br />

der Straftat, sondern die von den psychiatrischen Sachverständigen hergestellten Beziehungen zwischen<br />

begangenen <strong>und</strong> potenziell zu erwartenden Delikten massgeblich. Hierin zeigt sich wiederum die deutliche<br />

Parallelität zum Bereich des Armenpolizeirechts. Denn auch der verbreiteten Auffassung, dass Bettel,<br />

Landstreicherei oder ein «liederlicher Lebenswandel» Vorstufen zu Verbrechen darstellten, war die Denk-<br />

figur inhärent, dass sich von begangenen Übertretungen <strong>und</strong> Vergehen auf eine potenzielle zukünftige<br />

kriminelle Laufbahn schliessen liess, welche es präventiv zu bekämpfen galt. Wie im Fall der sichernden<br />

Massnahmen legitimierten solche Prognosen staatliche Interventionen zum Schutz der Gesellschaft.<br />

In der Regel stellten die Berner Psychiater keine direkte Beziehung zwischen einer diagnostizierten Geis-<br />

tesstörung <strong>und</strong> einer konstatierten «Gemeingefährlichkeit» her. Im Fall von Eugen L. vermerkte das Gut-<br />

achten zwar, dass die festgestellte Epilepsie dessen «Gemeingefährlichkeit» «erheblich» steigern würde. 1192<br />

Das Vorhandensein von Epilepsie bedeutete aber lediglich eine zusätzliche Qualifizierung der «Gemeinge-<br />

fährlichkeit», die für die Sachverständigen durch die Wirkungslosigkeit der bisherigen Strafmassnahmen<br />

bereits als erwiesen galt. Der in Kapitel 7.51 analysierte Fall des an «Dementia praecox» leidenden Fried-<br />

rich H. zeigt allerdings, dass Fälle ausgesprochener Psychosen den psychiatrischen Sachverständigen eine<br />

gewisse Engführung von Krankheitsbild <strong>und</strong> «Gemeingefährlichkeit» erlaubten. Das Gutachten der Wal-<br />

dau kam in diesem Fall zum Schluss: «Die Art, die Entwicklung, die Dauer dieser Störung lassen an keine<br />

Heilung denken». Friedrich H. habe «wiederholt das Beste versprochen <strong>und</strong> ist gefallen, wir müssen damit<br />

rechnen, dass er auch jetzt sein Wort nicht wird halten können. [...] Wir sind überzeugt, dass F. H. auch in<br />

Zukunft der Nämliche sein wird wie in der letzten Zeit, wenn er nicht bald noch stumpfer, blöder wird.<br />

D.h. er wird weiter träumen, auch weiter reizbar, zornmütig sein, wenn ihn etwas stört oder ihm entgegen-<br />

tritt, <strong>und</strong> wir wagen nicht zu behaupten, dass er nicht auch wieder gewalttätig werden könnte». 1193 Die<br />

Annahme der «Gemeingefährlichkeit» bezog sich hier primär auf die festgestellte Unheilbarkeit der Geis-<br />

teskrankheit, als deren direkte Folge der eingeklagte Totschlagsversuch gewertet wurde. Der bleibend<br />

1192 PZM KG 3317 (3342), Gutachten über Eugen L., o.D. [1908].<br />

1193 UPD KG 9017, Gutachten über Friedrich Adolf H., 17. April 1920. Vgl. UPD KG 4719/KG 5879/KG 7153.<br />

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