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Psychiatrie und Strafjustiz

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früheres Delikt. Dies liess ihn beim ersten Verdacht sofort als möglichen Täter erscheinen. Man hielt Fritz<br />

W. zwar für «nicht normal», für einen Sonderling, doch zugleich war er kein Geisteskranker, kein «Ver-<br />

rückter». Man betrachtete ihn als jemanden, der «weiss, was er tut». Sein aus dem gesellschaftlichen Rah-<br />

men fallendes Verhalten wurde in erster Linie an seinem Verhältnis zur Arbeit <strong>und</strong> zur Geselligkeit fest-<br />

gemacht. Von Einzelnen wurde er sogar als einen Kandidaten für die Zwangsarbeitsanstalt betrachtet.<br />

Über die Gründe seines Aussenseiterseins machte man sich indessen keine grossen Gedanken. Ebenfalls<br />

keine Gedanken machten sich die Auskunftspersonen über die weitere Zukunft von Fritz W. Demgegen-<br />

über bezeichnete das psychiatrische Gutachten Fritz W. als einen «intellektuellen <strong>und</strong> moralischen<br />

Schwachsinnigen», der seinen «momentanen Impulsen» keine «ethischen Vorstellungen» entgegenzustellen<br />

vermochte <strong>und</strong> mit grosser Wahrscheinlichkeit auch künftig wieder straffällig werden würde. Das Verhal-<br />

ten, an dem sich die Umgebung von Fritz W. stiess, wurde damit von den psychiatrischen Experten in<br />

einem psychopathologischen Erklärungsmodell zusammengefasst, aufgr<strong>und</strong> dessen sich eine Prognose<br />

seines künftigen Verhaltens erstellen liess. Die Ambivalenz, mit der die Leute aus dem Dorf Fritz W. be-<br />

gegneten, verschwand so hinter der Stringenz des psychiatrischen Deutungsversuchs.<br />

Der bisherige Lebensweg von Gottfried A. war von Gewalttätigkeiten geprägt. 1204 Nach einer Lehre bei<br />

seinem Vater als Schlosser, arbeitete Gottfried A. für einige Zeit in verschiedenen Stellen in der West-<br />

schweiz. Dort soll er sich an regelmässiges Trinken von Absinth gewöhnt haben. Seit 1884 war er mehr-<br />

mals wegen Körperverletzung <strong>und</strong> anderer Delikten bestraft worden. Als er 1908 psychiatrisch begutach-<br />

tet wurde, hatte er seinen italienischen Zimmergenossen durch die geschlossene Tür erschossen, als dieser<br />

Einlass begehrte. Seit längerem hatte sich Gottfried A. über das laute Schnarchen seines Bettnachbarn<br />

geärgert; dieser hätte ihn um seinen Schlaf <strong>und</strong> damit einen Teil seines Verdiensts gebracht. Wie das Gut-<br />

achten feststellte, war Gottfried A. an diesem Abend stark betrunken. Nach seinen eigenen Angaben gab<br />

er die Schüsse ab, ohne die Absicht zu haben, seinen Kollegen zu töten. Die psychiatrischen Experten<br />

diagnostizierten bei Gottfried A. das Fehlen der «höheren ethischen Begriffe <strong>und</strong> Gefühle» <strong>und</strong> bezeich-<br />

neten ihn als «gemütsstumpf».<br />

An drei Stellen enthält das psychiatrische Gutachten Hinweise darauf, wie Gottfried A. von den Leuten,<br />

die täglich mit ihm verkehrten, eingeschätzt wurde. Frühere Bekannte bezeichneten ihn als «tüchtigen<br />

Arbeiter, aber als Blaumacher, als bösartigen, heruntergekommenen Schnapser». In Bern verlief seine<br />

Suche nach einem andern Logis erfolglos, da seine potentiellen Vermieter «schlimmen Bescheid» über ihn<br />

erhielten. Dies verunmöglichte Gottfried A., dem Schnarchen seines Zimmergenossen zu entgehen. Be-<br />

reits vor seiner Tat hatte Gottfried A. heftige Drohungen gegenüber seinem späteren Opfer ausgestossen.<br />

Diese seien aber, wie das Gutachten festhielt, «bei dem oft betrunkenen A. nicht ernst genommen wor-<br />

den.» Diese verstreuten Angaben machen deutlich, dass Gottfried A. bei den Leuten, die seinen Lebens-<br />

weg kreuzten, zwar als tüchtiger Arbeiter, aber auch als unangenehmer <strong>und</strong> in bestimmten Augenblicken<br />

bedrohlicher Mensch galt. Seine verschiedenen Gewaltverbrechen wurden mit seinem Alkoholkonsum<br />

<strong>und</strong> einer dadurch bewirkten Verkommenheit <strong>und</strong> Bösartigkeit in Verbindung gebracht. Was seine Dro-<br />

hungen anbelangte, wurde er von seiner Umgebung nicht ernst genommen. Dafür, dass er von den Leuten<br />

als eine dauernde «Gefahr» wahrgenommen worden wäre, fehlen jedoch klare Hinweise. In seinen häufi-<br />

gen Stellenwechseln kommt rückblickend vielmehr ein lebensweltliches Muster zur Konfliktbewältigung<br />

zum Ausdruck, das anhaltende Konflikte verhinderte. Bezeichnend ist, dass gerade dieses Konfliktlö-<br />

sungsmuster im Fall des eingeklagten Tötungsdelikts nicht zum Tragen kommen konnte. Die Perspektiven<br />

der Psychiater <strong>und</strong> der näheren Umgebung unterschieden sich ebenfalls in Bezug auf das Trinkverhalten<br />

1204 Für die folgenden Ausführungen: StAB BB 15.4, Band 1848, Dossier 582, Gutachten über Gottfried A., 1. Mai 1908.<br />

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