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Psychiatrie und Strafjustiz

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aus blosser «Rohheit» beging, bis zum «perversen Degenerierten» reichten. 1033 Wie die folgenden Fallbei-<br />

spiele zeigen, setzten auch die Berner Psychiater je nach Fallkonstellation in unterschiedlicher Weise auf<br />

eine Diskursivierung männlichen Sexualverhaltens.<br />

Männlicher Geschlechtstrieb <strong>und</strong> mangelhafte Selbstkontrolle<br />

Keinen spezifisch sexuellen Charakter massen die Sachverständigen dem Sexualdelikt des 26jährigen<br />

Schuhmachers Ulrich B. aus Röthenbach bei. Der in seinem Umfeld als «ein wenig beschränkt» geltende<br />

Ulrich B. war 1908 angeschuldigt, die bei seinem Meister verkostgeldete Elise S. mehrfach vergewaltigt<br />

<strong>und</strong> dabei geschwängert zu haben. Ulrich B. gab gegenüber den Sachverständigen zu, die von Zeugen als<br />

«geistig zurückgeblieben» geschilderte Frau gegen ihren Willen sexuell missbraucht zu haben. Allerdings<br />

habe diese ihn mit dem Zeichen der «hohlen Hand» selbst zum Beischlaf ermuntert. Den Sachverständi-<br />

gen machte B. «einen ziemlich blöden Eindruck». Er antwortete langsam <strong>und</strong> schwerfällig <strong>und</strong> besass nur<br />

elementare Schulkenntnisse. Sein Wissen <strong>und</strong> seine Fähigkeiten waren rein praktischer Natur <strong>und</strong> auf die<br />

Verrichtung alltäglicher Arbeiten ausgerichtet. Für die Psychiater war deshalb rasch klar, dass es sich bei<br />

Ulrich B. um einen «Schwachsinnigen» handeln musste. Anhand der Aussagen von Ulrich B. zeichneten<br />

die Psychiater in ihrem Gutachten ein widersprüchliches Bild einer ländlichen Hausgemeinschaft, in der<br />

sexuelle Übergriffe <strong>und</strong> Widerstände offensichtlich an der Tagesordnung waren. Bereits früher habe Ul-<br />

rich B. versucht, Elise S. «mit der Hand unter den Rock zu greifen» <strong>und</strong> mit ihr den «Löhl» zu machen.<br />

Auch andere Männer <strong>und</strong> Burschen hätten die Frau «geplagt» <strong>und</strong> «geneckt». Ulrich B. hielt solche Über-<br />

griffe nicht für aussergewöhnlich. Sein Fehler sei ihm erst aufgegangen, als er erfahren habe, dass Elise S.<br />

schwanger sei. Von seinem Meister wisse er freilich, dass «man so etwas bei Dummen <strong>und</strong> Verdingten<br />

nicht tun» dürfe. Auf die entsprechende Nachfrage der Sachverständigen antwortete Ulrich B., dass er<br />

«noch nie etwas mit Mädchen zu tun» gehabt <strong>und</strong> auch nicht wie andere Burschen beim Kiltgang teilge-<br />

nommen habe. Er sei überhaupt «lieber für sich» geblieben <strong>und</strong> habe keine Kameraden aufgesucht, da<br />

diese ihn doch nur «geneckt» hätten. 1034<br />

Wie in vielen ähnlich gelagerten Fällen erschöpften sich im Gutachten über Ulrich B. die Angaben zu<br />

seinem Sexualleben in wenigen Sätzen. Die Sachverständigen befragten solche Sexualdelinquenten bei der<br />

Begutachtung zwar kurz über ihre Sexualkontakte oder über ihre Selbstbefriedigung. Eine ausführliche<br />

Erörterung der sexuellen Vorstellungen <strong>und</strong> Wünsche fand jedoch in den meisten Fällen nicht statt. 1035<br />

Auch im Fall von Ulrich B. nahmen die Sachverständigen nicht dessen Sexualleben, sondern den festge-<br />

stellten «Schwachsinn» zum Ausgangspunkt ihrer Schlussfolgerungen. Ihre Argumentation folgte denn<br />

auch der diskursiven Struktur dieses Deutungsmusters, wie es in Kapitel 7.42 analysiert worden ist. Die<br />

Psychiater schenkten der Rechtfertigung von Ulrich B, er sei von seinem Opfer zum Beischlaf aufgefor-<br />

dert worden, zudem eine gewisse Glaubwürdigkeit: «So wäre es denkbar, dass die schwachsinnig, schwer-<br />

hörige Person ihn etwas angelockt hat <strong>und</strong> B., der infolge seines Schwachsinns <strong>und</strong> der dadurch mangel-<br />

haft ausgebildeten ethischen Hemmungen leicht zu überreden ist, hat der Lockung sofort die Tat folgen<br />

lassen. [...] Wir wissen nun, dass Schwachsinnige sehr oft Sittlichkeitsdelikte begehen <strong>und</strong> zwar weniger<br />

wegen ihrer mangelnden Intelligenz, ihrer mangelnden Urteilskraft, als besonders wegen des Fehlens ethi-<br />

scher Hemmungen <strong>und</strong> sittlicher Gr<strong>und</strong>sätze, deswegen sind solche Kranke, wie auch B., momentanen<br />

Impulsen <strong>und</strong> ihren Leidenschaften mehr preisgegeben.» Das Gutachten machte damit nicht ein «pervers»<br />

entwickelter Sexualtrieb, sondern das Fehlen «ethischer Hemmungen» für das eingeklagte Sexualdelikt<br />

1033 Hommen, 1999, 74-83.<br />

1034 StAB BB 15.4, Band 1853, Dossier 610. Psychiatrisches Gutachten über Ulrich B., 20. Juni 1908.<br />

1035 Vgl. folgende Fallbeispiele aus dem Sample: StAB BB 15.4, Band 1753, Dossier 9611; StAB BB 15.4, Band 1861, Dossier 646;<br />

StAB BB 15.4, Band 1956, Dossier 1147; StAB BB 15.4, Band 2095, Dossier 1857; PZM KG 4053.<br />

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