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Psychiatrie und Strafjustiz

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muss die Bequemlichkeit des Psychiaters zurücktreten.» 1317 Bleuler <strong>und</strong> Maier bekräftigten hier nochmals<br />

ihre bereits um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende eingenommene kriminalpolitische Position, wonach eine Medikali-<br />

sierung kriminellen Verhaltens gr<strong>und</strong>sätzlich als Fortschritt werten sei. Damit verb<strong>und</strong>en war die Bereit-<br />

schaft der Psychiater, sich auch institutionell an einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung zu beteili-<br />

gen. In einer Antwort auf die Replik Bleulers bekräftigte Gehry seine Ansicht <strong>und</strong> machte deutlich, dass<br />

die Neubeurteilung des «moralischen Schwachsinns» vor allem dazu dienen sollte, Druck auf die Justiz<br />

<strong>und</strong> die politischen Behörden auszuüben, «den Kampf um die neuen Institutionen zu führen» – gemeint<br />

waren damit spezielle Verwahrungsanstalten für «moralisch Schwachsinnige». 1318<br />

Im Anschluss an diese Debatte zeigte sich aber, dass auch die Gegner Gehrys zunehmend bereit waren,<br />

der geforderten Neubeurteilung des «moralischen Schwachsinns» zu folgen. In der ersten Auflage seines<br />

Lehrbuchs von 1916 stellte Bleuler nicht ohne Resignation fest, dass man angesichts des herrschenden<br />

Vollzugsnotstands «bis auf weiteres, nicht anders [könne], als die Kranken für zurechnungsfähig zu erklä-<br />

ren». 1319 1926 erklärte Bleuler vor dem Zürcher Hilfsverein für Geisteskranke: «Man hat [...] an den meisten<br />

Orten die moralischen Idioten während vieler Jahre als unzurechnungsfähig betrachtet <strong>und</strong> ihre dauernde<br />

Einsperrung als verbrecherische Geisteskranke verfügt. [...] Einrichtungen, in denen sie besser [als in den<br />

Irrenanstalten] festgehalten werden können, wollte man nicht machen – sie sind eben teuer – <strong>und</strong> so än-<br />

derten wir unsere Begutachtungen, indem wir im Einverständnis mit den massgebenden Justizbehörden<br />

den moralischen Defekt, wenn er nicht noch mit anderen schweren Abnormitäten verb<strong>und</strong>en war, nicht<br />

mehr als Krankheit im Sinne des Strafgesetzes betrachteten.» 1320 Bleuler präsentierte seinen Meinungsum-<br />

schwung hier als Konsequenz des nach wie vor ungelösten Verwahrungsproblems. Wie die Ausführungen<br />

im vorhergehenden Unterkapitel zeigen, waren die Schweizer Psychiater für die unbefriedigende Situation<br />

freilich zu einem guten Teil selbst verantwortlich. Die von Bleuler konstatierte Praxisänderung bei der<br />

Beurteilung des «moralischen Schwachsinns» vertrug sich indes bestens mit dem von Ris in seinem Gut-<br />

achten postulierten Abschieben ausgesprochener «Grenzfälle» an den Strafvollzug. Bleulers Votum von<br />

1926 verdeutlicht beispielhaft die gewandelte Strategie der Schweizer Psychiater: Anstatt auf politischem<br />

Wege für die Errichtung geeigneter Unterbringungsmöglichkeiten einzutreten, verlegten sich führende<br />

Exponenten der Disziplin in den 1920er Jahren auf die Strategie, «Grenzfälle» als zurechnungsfähig zu<br />

begutachten, um dadurch die Irrenanstalten von missliebigen Insassen entlasten zu können. Aufgr<strong>und</strong> der<br />

verfügbaren Quellen ist allerdings fraglich, inwieweit sich dieser Meinungsumschwung tatsächlich auf die<br />

Begutachtungspraxis durchschlug. So enthält eine Zusammenstellung der zwischen 1915 <strong>und</strong> 1929 im<br />

Burghölzli abgegebenen Gutachten keine Hinweise auf eine restriktivere Exkulpationspraxis. Maier sprach<br />

in diesem Zusammenhang davon, dass in diesem Zeitraum der Massstab der psychiatrischen Begutach-<br />

tung gleich geblieben sei. Allerdings unterliess auch er es nicht, darauf hinzuweisen, dass sich die Praxis<br />

entwickelt hätte, «moralisch Schwachsinnige» als voll zurechnungsfähig zu betrachten, «weil wir einfach<br />

keine Möglichkeit haben, sie sicher in psychiatrischen Anstalten unterzubringen.» 1321 Unabhängig von<br />

allfälligen Auswirkungen auf die Begutachtungspraxis markiert der rhetorische Richtungswechsel der Zür-<br />

cher Psychiater eine deutliche Absage an die psychiatrischen Medikalisierungspostulate der 1880er <strong>und</strong><br />

1890er Jahre.<br />

1317 Votum Maiers zitiert: Bleuler, 1914, 209f. Maier widersprach sich hier allerdings selbst, hatte er doch im Februar 1913 darauf<br />

hingewiesen, «dass es der Wille unseres Gesetzgebers ist, dem moralischen Defekt im allgemeinen als die Zurechnungsfähigkeit<br />

nicht beeinflussend anzusehen. [...] Auch wir Psychiater haben uns selbstverständlich dieser Anschauung der Mehrheit zu fügen.»;<br />

vgl. Maier, 1913, 292f.; Maier, 1913a, 301.<br />

1318 Gehry, 1914, 344f.<br />

1319 Bleuler, 1916, 459.<br />

1320 Bleuler, 1926, 29.<br />

1321 Maier, 1931, 97, 100, 103.<br />

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