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Psychiatrie und Strafjustiz

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den Massnahmen nahm tendenziell ab, wogegen ein immer grösserer Anteil an «gemeingefährlichen» De-<br />

linquenten in nicht ärztlich geleitete Anstalten versetzt oder fürsorgerischen Massnahmen unterworfen<br />

wurde. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass zwischen den beiden Untersuchungsperioden die absolute<br />

Zahl der in die Irrenanstalten eingewiesenen Personen nach wie vor zunahm. Gemäss der in der Einlei-<br />

tung erläuterten Terminologie lässt sich diese Ausdifferenzierung als eine partielle Demedikalisierung des<br />

Massnahmenvollzugs bezeichnen. Diese Demedikalisierungstendenz war allerdings nicht von einer<br />

schwindenden Präsenz psychiatrischer Deutungsmuster in der Strafrechtspflege geprägt, ihre Charakteris-<br />

tik lag vielmehr darin, dass eine wachsende Zahl strafrechtlich nicht voll verantwortlicher DelinquentInnen<br />

eine psychiatrische Diagnose zugeschrieben erhielten, jedoch beim Vollzug sichernder Massnahmen<br />

nicht in eine medizinische Institution versetzt wurden. Eine parallele Entwicklung manifestierte sich im<br />

Kanton Bern auch in der bereits erwähnten Ausweitung des Armenpolizeigesetzes von 1912 auf «geistig<br />

minderwertige Personen, welche die allgemeine Sicherheit in hohem Grad gefährden». Solche Personen<br />

wurden zwar aufgr<strong>und</strong> einer psychiatrischen Diagnose als «minderwertig» stigmatisiert, ihre Internierung<br />

erfolgte dann aber in eine Anstalt, die nicht unter ärztlicher Leitung stand.<br />

Diese Ausdifferenzierung des Berner Massnahmenvollzugs ist im Kontext einer Neuorientierung des Für-<br />

sorgewesens nach der Jahrh<strong>und</strong>ertwende zu interpretieren. Das fürsorgerische Dispositiv, das mit der<br />

Einführung des Zivilgesetzbuches von 1912 gelegt wurde, ergänzte eine primär auf materielle Unterstüt-<br />

zung <strong>und</strong>/oder Disziplinierung bedachte Armenpolitik um eine pädagogisch motivierte <strong>und</strong> individuali-<br />

sierte Fürsorge, die durch «sanften» Druck erwünschte Verhaltensanpassung erreichen <strong>und</strong> damit «prophy-<br />

laktisch» wirken sollte. 1159 Dass das neue fürsorgerische Dispositiv in den Augen seiner Befürworter tat-<br />

sächlich eine ähnliche Schutzfunktion wie die strafrechtlichen Massnahmen haben sollte, brachte 1912<br />

eine angehende Ärztin auf den Punkt: «Die Fürsorge ist einerseits eine Konsequenz des Mitleids von<br />

Mensch zu Mensch, andererseits als Staatsfunktion Schutzmassregel des Staates, der mehr oder weniger<br />

intensiv empfindet, dass die Vermehrung <strong>und</strong> Anhäufung Minderentwickelter <strong>und</strong> Minderbegüterter seine<br />

Existenz gefährdet.» 1160 Zu solchen Überscheidungen zwischen Straf- <strong>und</strong> Zivilrecht kam es im Kanton<br />

Bern im Zusammenhang mit sichernden Massnahmen bei Bevorm<strong>und</strong>ungen oder bei der Anordnung von<br />

Schutzaufsicht. 1161 Straf- <strong>und</strong> zivilrechtliche Massnahmen verbanden sich dabei zu einer Praxis der Krimi-<br />

nalitätsbewältigung, die in bestimmten Bereichen repressive durch regulative Massnahmen ersetze <strong>und</strong> auf<br />

eine arbeitsteilige Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden, <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Fürsorge setzte. Zumindest<br />

teilweise nahm die Justizpraxis damit die Neuausrichtung des Strafrechts, wie es die Strafrechtsreformer<br />

propagierten, vorweg.<br />

8.3 Die Ausweitung der Massnahmenpraxis auf vermindert Zurechnungsfähige<br />

In der herkömmlichen Auslegung von Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs beschränkte sich die An-<br />

wendung sichernder Massnahmen auf unzurechnungsfähige StraftäterInnen. Die Administrativmassnah-<br />

men ersetzten dadurch nicht ausgesprochene Freiheitsstrafen. 1904 beantragte ein Berner Gericht beim<br />

Regierungsrat erstmals sichernde Massnahmen gegen einen vermindert zurechnungsfähigen Straftäter. Die<br />

Berner Regierung rang sich indes nur zögerlich zu einer Praxisänderung durch, indem sie 1908 erstmals<br />

einen vermindert zurechnungsfähigen Delinquenten verwahren liess. Die gemilderte Strafe <strong>und</strong> die si-<br />

chernde Massnahme wurden in diesen Fall kumuliert. Auf den ersten Blick scheint es, als hätte die Berner<br />

Regierung damit ein zentrales Postulat der Strafrechtsreformer verwirklicht. Es ist bereits darauf hingewie-<br />

1159 Vgl. Hürlimann, 2002; Germann, 2000, 141f.; Ramsauer, 2000; Puenzieux/Ruckstuhl, 1994, 169-214.<br />

1160 Pictet, 1912, 8.<br />

1161 Vgl. StAB A II, Band 1478, RRB 739; A II, Band 1480, RRB 136. Der Kanton Bern führte die Schutzaufsicht für bedingt<br />

entlassene Sträflinge mit dem Dekret vom 6. Februar 1911 ein; vgl. GDV, 1911, 12-17.<br />

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