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Psychiatrie und Strafjustiz

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abweichendes Verhalten überhaupt erst qualifizieren liess. Bereits in den Kapiteln 2 <strong>und</strong> 3 ist darauf hin-<br />

gewiesen worden, dass ein «bürgerlicher Wertehimmel» (Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann)<br />

dem Bürgersubjekt nicht nur Orientierungspunkte zur individuellen Lebensgestaltung bot, sondern auch<br />

als Massstab für die Qualifizierung abweichenden Verhaltens diente. «Bürgerlichkeit» definiert sich in die-<br />

ser Perspektive durch eine autonome Innenlenkung des individuellen Verhaltens, das frei von aller ständi-<br />

schen Bevorm<strong>und</strong>ung <strong>und</strong> Einschränkung sein sollte. Die Fixsterne des «bürgerlichen Wertehimmels»<br />

hielten gleichsam ein set von Gr<strong>und</strong>sätzen bereit, nach denen sich die Bürgersubjekte ausrichten konnten –<br />

<strong>und</strong> im Interesse der Gesellschaft mussten. Dazu gehörten die klassischen bürgerlichen «Sek<strong>und</strong>ärtugenden»<br />

wie «Ordnung», «Fleiss» oder «Sparsamkeit», die individuelles Verhalten gleichsam von aussen nor-<br />

mierten, aber ebenso «emotionale Fixsterne» wie «Liebe», «Freude», «Mitleid» oder «Trauer». Bürgerliche<br />

Identität als solche war weniger das Produkt einer (erzwungenen) Befolgung gesellschaftlicher Konventio-<br />

nen, als das Resultat einer erfolgreichen, wenngleich nicht durchwegs widerspruchsfreien individuellen<br />

Aneignung solcher Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> emotionaler Bezugspunkte. 1096<br />

Genuin bürgerlich zu nennen ist aber auch das Bewusstsein, dass die Aneignung sittlicher Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong><br />

Lebensprinzipien von «Gefährdungen» begleitet war. Nicht nur widrige äussere Umstände bedeuteten eine<br />

Gefahr für die Realisierung eines bürgerlichen Habitus, auch die «Nachtseiten» der Vernunft wie nicht zu<br />

beherrschende Leidenschaften oder Störungen des «Seelenlebens» bedrohten das fragile Gleichgewicht<br />

zwischen individueller Freiheit <strong>und</strong> gesellschaftlicher Formung. Wie Doris Kaufmann gezeigt hat, mach-<br />

ten Diskurse um die Gefährdung des Subjekts <strong>und</strong> der Willensfreiheit einen integralen Bestandteil der sich<br />

formierenden bürgerlichen Identität aus <strong>und</strong> stellten zugleich den Hintergr<strong>und</strong> für die Entstehung der<br />

<strong>Psychiatrie</strong> als Institution <strong>und</strong> Wissenschaft dar. Die erfolgreiche Verwirklichung des Ideals der bürgerli-<br />

chen Selbstführung setzte auf der Seite des Individuums eine intakte «Seelenges<strong>und</strong>heit» <strong>und</strong> geistige Ka-<br />

pazitäten wie die Fähigkeit zur Reflexion <strong>und</strong> Selbstbeobachtung voraus. 1097 Die Willenssemantik des bür-<br />

gerlichen Strafdiskurses, die die Strafbarkeit des Rechtssubjekts an dessen Willensfreiheit band, implizierte<br />

in dieser Perspektive zugleich eine potenzielle Gefährdung des «freien Willens» <strong>und</strong> der strafrechtlichen<br />

Verantwortlichkeit. Die Analyse der Fallbeispiele zeigt, dass diese Willenssemantik auch im Untersu-<br />

chungszeitraum die forensisch-psychiatrische Begutachtungspraxis nachhaltig prägte. Der Rechtsbegriff<br />

der «Willensfreiheit» galt im Kanton Bern seit 1866 als integraler Bestandteil der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.<br />

Obwohl sich die Berner Psychiater wiederholt gegen die in ihren Augen veraltete Fassung der<br />

Formulierung von Artikel 43 des Berner Strafgesetzbuchs wandten, operierten sie in ihrer Begutachtungs-<br />

praxis nach wie vor mit dieser genuin bürgerlichen Willenssemantik, wenn es darum ging, Verbrechen <strong>und</strong><br />

Geistesstörungen zueinander in Beziehung zu setzen.<br />

Die Fixsterne des «bürgerlichen Wertehimmels» dienten zugleich als Bezugspunkte für die Beurteilung<br />

abweichenden Verhaltens. Die Aneignung bürgerlicher Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Normen war weder eine individuelle,<br />

noch eine fakultative Lebensaufgabe. Vielmehr brachte der hegemoniale Anspruch des neuen Habitus<br />

Machtmechanismen hervor, die Abweichungen vom Ideal ahnden <strong>und</strong> korrigieren sollten. 1098 In dieser<br />

Perspektive stellten Strafverfahren privilegierte soziale Orte dar, wo über Erfolg <strong>und</strong> Scheitern beim Navi-<br />

gieren unter dem «bürgerlichen Wertehimmel» verhandelt wurde. Vom Beizug medizinischer Sachverstän-<br />

diger erhoffte sich die bürgerliche Justiz dabei eine Klärung der subjektiven Navigationstauglichkeit der<br />

1096 Hettling/Hoffmann, 1997, 333-342; Hettling/Hoffmann, 2000, 11-18; Hettling, 2000, sowie die weiteren Beiträge des Sammelbands.<br />

Für die für die Schweiz spezifische Verbindung von republikanischer Gemeinsinn <strong>und</strong> bürgerlichen Tugenden: Meyerhofer,<br />

2000, 31-39, 71-80, 88-92.<br />

1097 Kaufmann, 1995, 25-109. Zum Ideal der körperlichen <strong>und</strong> psychischen Selbstregulation im hygienischen Diskurs: Sarasin,<br />

2001, 75-77, 249, 261, sowie zum Gleichgewichtsmodell: 226-248.<br />

1098 Vgl. Hettling/Hoffmann, 2000, 15-17, stellen die individuelle Aneignung bürgerlicher Prinzipien in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

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