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Psychiatrie und Strafjustiz

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Antragstellende Behörden <strong>und</strong> angeordnete Massnahmen<br />

R<strong>und</strong> ein Drittel der Anträge auf sichernde Massnahmen wurde von Gerichtsinstanzen (110), zwei Drittel<br />

von Untersuchungs- <strong>und</strong> Überweisungsbehörden (213) gestellt. In dieser Verteilung widerspiegelt sich die<br />

grosse Bedeutung, die in der Berner Justizpraxis der Einstellung von Strafverfahren aufgr<strong>und</strong> psychiatri-<br />

scher Gutachten zukam. So übernahmen zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920 die Untersuchungs- <strong>und</strong> Überwei-<br />

sungsbehörden in 213 Fällen vorbehaltlos die Verneinung der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> die Beurteilung<br />

der «Gemeingefährlichkeit» durch die psychiatrischen Sachverständigen <strong>und</strong> beantragten die Verhängung<br />

von sichernden Massnahmen, ohne dass eine eigentliche Gerichtsverhandlung stattgef<strong>und</strong>en hätte. Wie<br />

bereits erwähnt, bedeutete dies für die betroffenen StraftäterInnen, dass sie weder über rechtliches Gehör,<br />

noch über eigentliche Rechtsmittel verfügten, wie dies bei einer Hauptverhandlung vor Gericht der Fall<br />

gewesen wären. Hinter diesem Bef<strong>und</strong> wird die Tendenz deutlich, einen Teil der Kriminalitätsbekämpfung<br />

unter Umgehung der gerichtlichen Instanzen auf eine administrative Ebene zu verlagern. Medikalisierung-<br />

sansätze spielten dabei insofern eine Rolle, als sie erlaubten, kriminelles Verhalten zu einem medizinischen<br />

Problem umzudefinieren, das sich aufgr<strong>und</strong> medizinisch-administrativer Zweckmässigkeitsüberlegungen<br />

lösen liess. Damit verb<strong>und</strong>en war ein Zurückdrängen der richterlichen Zuständigkeit.<br />

Ein wesentliches Element administrativ-medizinischer Massnahmen war ihre zeitliche Unbestimmtheit.<br />

Im Gegensatz zu regulären Strafen erhielten sichernde Massnahmen keine zeitliche Befristung, ihre Dauer<br />

sollte sich allein nach dem intendierten Verwahrungszweck richten. Die Schwere des ursprünglich began-<br />

genen Delikts sollte dagegen lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Die Frage nach der Dauer der<br />

gemäss Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs verhängten Massnahmen lässt sich aufgr<strong>und</strong> des unter-<br />

suchten Quellenmaterials allerdings nur ansatzweise beantworten. 1154 Deutlich wird auf jeden Fall, dass die<br />

Dauer der Massnahmen von Fall zu Fall deutlich variierte. 1913 verhängte der Regierungsrat beispielswei-<br />

se 21 sichernde Massnahmen, wovon 19 in einer Anstaltseinweisung bestanden. Von diesen Delinquen-<br />

tInnen wurden zwei innerhalb eines, zwei weitere innerhalb eines weiteren Jahres entlassen. Weitere vier<br />

wurden bis zum Ende des Untersuchungszeitraums (1920) entlassen. Von den verbleibenden elf Delin-<br />

quentInnen blieben drei nachweislich mehr als zehn Jahre <strong>und</strong> bis zu ihrem Tod in den kantonalen Irren-<br />

anstalten interniert. Von den übrigen acht DelinquentInnen ist anzunehmen, dass sie ebenfalls länger als<br />

sieben Jahre verwahrt blieben, respektive vor Ablauf der Massnahme starben oder aus dem Kanton Bern<br />

ausgewiesen wurden. 1155 Wie unterschiedlich die Dauer dieser Massnahmen ausfallen konnte, zeigt der<br />

Vergleich der Fälle von Rosa M. <strong>und</strong> Christian G., die beide des Mordversuchs angeschuldigt waren. Rosa<br />

M., die versucht hatte, ihr Kind zu vergasen, wurde im März 1913 in die Waldau zur Begutachtung einge-<br />

wiesen. Aufgr<strong>und</strong> des psychiatrischen Gutachtens stellten die Untersuchungsbehörden das Verfahren ein<br />

<strong>und</strong> im Mai 1913 ordnete der Regierungsrat die Internierung von Rosa M. in der Waldau an. Aufgr<strong>und</strong><br />

eines ärztlichen Attests wurde Rosa M. im August 1913 provisorisch <strong>und</strong> im Mai 1914 definitiv entlassen.<br />

Der bereits erwähnte Christian G. verblieb dagegen von seiner Begutachtung im April 1913 bis zu seinem<br />

Tod im Jahre 1929 in der Waldau. Eine Platzierung ausserhalb der Irrenanstalt, wie sie von seiner Heimat-<br />

gemeinde angestrebt wurde, lehnte Christian G. ab. 1156 Fiel bei Rosa M. die Verwahrung deutlich kürzer<br />

1154 Gr<strong>und</strong>sätzlich lässt sich die Massnahmendauer aufgr<strong>und</strong> der Einweisungs- <strong>und</strong> Entlassungsbeschlüsse des Regierungsrats<br />

eruieren. Aufgr<strong>und</strong> der untersuchten Regierungsratsprotokolle lässt sich jedoch vermuten, dass nicht in jedem Fall auch ein formeller<br />

Entlassungsbeschluss gefasst wurde (Tod der Eingewiesenen in der Anstalt, Verlegung en ausserhalb des Kantonsgebiets,<br />

nicht dokumentierte provisorische Entlassungen). Umfassende Angaben zur Massnahmendauer müssten demnach über die Archive<br />

der psychiatrischen Kliniken, sowie anderer Anstalten erhoben werden. Da im Rahmen dieser Arbeit die Umstände, die zu<br />

einer Medikalisierung kriminellen Verhaltens führten, im Vordergr<strong>und</strong> stehen, beschränken sich die obigen Ausführungen auf<br />

beispielhaften Angaben.<br />

1155 Vgl. StAB A II, Bände 1480-1494; UPG KG 7128/7132/7153/7965; PZM KG 4111/4053/4086.<br />

1156 StAB A II, Band 1480, RRB 2204, RRB 2297; UPD KG 7128/7132.<br />

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