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Psychiatrie und Strafjustiz

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achtungen vor Gericht zu einem festen Bestandteil der Berufstätigkeit der deutschen Psychiater. 186 Damit<br />

verb<strong>und</strong>en war die Ausdifferenzierung einer forensischen <strong>Psychiatrie</strong> mit eigenen Lehrbüchern <strong>und</strong> Lehr-<br />

angeboten, welche sich definitiv von der herkömmlichen Gerichtsmedizin emanzipierte. 187 In den letzten<br />

Jahrzehnten des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstanden in Deutschland zudem spezialisierte forensisch-<br />

psychiatrische Institutionen, die jedoch primär der Verwahrung von «verbrecherischen Geisteskranken»<br />

<strong>und</strong> nicht der Begutachtung dienten. 188<br />

Die Problematisierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit <strong>und</strong> die Entstehung neuer psychi-<br />

atrischer Deutungsmuster<br />

Sowohl die definitorische Erweiterung der Zurechnungsfähigkeit, als auch die Artikulation des ärztlichen<br />

Kompetenz- <strong>und</strong> Deutungsanspruchs entstanden vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer breiten Problematisierung<br />

der menschlichen Selbstbestimmungsfähigkeit durch die Aufklärungsbewegung. Diese kritische Variante<br />

der bürgerlichen Willenssemantik war Bestandteil des aufklärerischen Diskurses über eine pragmatische<br />

«Menschenkenntnis». 189 Aufklärer wie Kant waren nicht nur bestrebt, Einsicht in die abstrakten Gr<strong>und</strong>sät-<br />

ze der Vernunft zu erlangen, sondern auch dem «Maschinenwesen im Menschen» auf die Spur zu kom-<br />

men. Wie Kant in seiner Anthropologie von 1798 festhielt, bezog sich die «physiologische Menschen-<br />

kenntnis [...] auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf<br />

das, was er, als frei handelndes Wesen, aus sich selber macht, machen kann oder machen soll». 190 Pragma-<br />

tisch war diese Menschenkenntnis insofern, als sie von der Befähigung des bürgerlichen Subjekts ausging,<br />

seine tägliche Lebenspraxis selbst zu gestalten, <strong>und</strong> zugleich nach den Grenzen <strong>und</strong> Normen fragte, die<br />

diese Freiheit in Schranken wiesen. Kants Diktum implizierte, dass es letztlich darum ging, das, «was die<br />

Natur aus dem Menschen macht», zugunsten der menschlichen Selbstbestimmung zurückzudrängen. 191<br />

Indem die Aufklärer die Willensfreiheit zum «Kernbestand bürgerlicher Identität» (Doris Kaufmann) er-<br />

hoben, stellten sie zugleich die Frage nach den Grenzen der subjektiven Selbstbestimmungsfähigkeit.<br />

Auf entsprechend grosses Interesse stiessen in bildungsbürgerlichen Kreisen des ausgehenden 18. Jahr-<br />

h<strong>und</strong>erts Erzählungen <strong>und</strong> Berichte über «Verirrungen» der menschlichen Leidenschaften, abnorme Seelenzustände<br />

<strong>und</strong> Verbrechen, die auf die Gefährdung der Selbstbestimmungsfähigkeit des Subjekts hin-<br />

wiesen. Nicht umsonst leitete Friedrich Schiller (1759–1805) seine Erzählung Der Verbrecher aus verlorener<br />

Ehre von 1792 mit den Worten ein: «In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrich-<br />

tender für Herz <strong>und</strong> Geist als die Annalen seiner Verirrungen». Gerade Zustände «gewaltsamer Leiden-<br />

schaft» würden, so Schiller, dem «feineren Menschenforscher» einen Königsweg zur Erkenntnis der «Me-<br />

chanik der gewöhnlichen Willensfreiheit» weisen. 192 Ein beliebtes Forum für den Austausch solcher Gren-<br />

zerfahrungen war das zwischen 1783 <strong>und</strong> 1793 von Karl Philipp Moritz (1756–1793) herausgegebene<br />

186 Die Forschungsliteratur zum deutschsprachigen Raum (Wetzel, 2000: Chmieleski, 1999; Kaufmann, 1995; Güse/Schmacke,<br />

1976) geht auf die Frage der Spezialisierung der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis kaum ein. Hinweise auf diesen<br />

Spezialisierungsprozess gibt die Situation im Herzogtum Braunschweig. Wie Frauke Klinge, die an einer Untersuchung über die<br />

forensische <strong>Psychiatrie</strong> im Herzogtum Braunschweig zwischen 1830 <strong>und</strong> 1900 arbeitet, dem Verfasser am 28. Oktober 2001<br />

mitteilte, wurden forensisch-psychiatrische Gutachten bis in die 1860er Jahre von der obersten Medizinalbehörde erstatten. Nach<br />

der Gründung der Irrenanstalt in Königslutter im Jahre 1865 übernahm der dortige Anstaltsdirektor solche Begutachtungsaufgaben.<br />

187 Vgl. Krafft-Ebing, 1872.<br />

188 Aschaffenburg, 1912. In Paris bestand seit 1845 ein Dépôt de la Préfecture de Police, dem seit 1872 eine Infirmière spéciale angegliedert<br />

wurde, in der von der Polizei aufgegriffene Personen <strong>und</strong> angeschuldigte DelinquentInnen begutachtet werden konnten; vgl.<br />

Harris, 1989, 140-142.<br />

189 Vgl. Kaufmann, 1995, 25-109, 312-314.<br />

190 Kant [1798], 1975, 399.<br />

191 Vgl. Kaufmann, 1995, 31, 91. Zur Affekt- <strong>und</strong> Triebkontrolle als Bestandteil eines «Zivilisationspriozesses»: Elias, 1997.<br />

192 Schiller [1792], 1964, 3. Zur Entwicklung des Genre Kriminalgeschichte: Schönert, 1983, 49-51.<br />

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