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Psychiatrie und Strafjustiz

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unzurechnungsfähige <strong>und</strong> «gemeingefährliche» DelinquentInnen an Stelle einer Strafe auf unbestimmte<br />

Zeit in einer Irrenanstalt zu verwahren. Zwischen 1895 <strong>und</strong> 1920 beantragten die Justiz- <strong>und</strong> Gerichtsbe-<br />

hörden in fast jedem zweiten Begutachtungsfall sichernde Massnahmen – mit steigender Tendenz gegen Ende<br />

des Untersuchungszeitraums. 1908 weitete der Regierungsrat die Massnahmenpraxis auf Empfehlung von<br />

Justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> zudem auf vermindert zurechnungsfähige DelinquentInnen aus. Die Untersuchung<br />

der Berner Massnahmepraxis zeigt, dass die Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Begutachtungs-<br />

praxis letztlich mit einer Ausdifferenzierung der institutionellen Zugriffe auf StraftäterInnen einherging. Die Ten-<br />

denz, Delinquenz zu medikalisieren, bedeutete demnach weniger, wie dies von traditionalistischen Juristen<br />

befürchtet wurde, eine Lockerung des staatlichen Sanktionsanspruchs als eine Akzentverschiebung innerhalb<br />

der zur Verfügung stehenden Sanktionsinstrumente. Mit der Ausdifferenzierung der institutionellen<br />

Zugriffe verb<strong>und</strong>en war eine Verschiebung bezüglich des Begründungszusammenhangs der Sanktionen.<br />

Kriterium der im Kanton Bern zur Anwendung gelangenden «Sicherungsmassregeln» war nicht die<br />

Schwere der begangenen Straftat, sondern die «Gemeingefährlichkeit» der TäterInnen. Die Beurteilung der<br />

«Gemeingefährlichkeit» von DelinquentInnen oblag ebenfalls den psychiatrischen Sachverständigen, die zur<br />

Interpretation dieser in der Tradition des Polizei- <strong>und</strong> Verwaltungsrechts stehenden Kategorie meist auf<br />

die Kriterien der Heilbarkeit <strong>und</strong> Unheilbarkeit von Geistesstörungen rekurrierten. Für die Berner Psychi-<br />

ater hatte die Ausweitung der Massnahmenpraxis somit zur Folge, dass sie nebst der Beurteilung der Zu-<br />

rechnungsfähigkeit vermehrt Prognosen über das künftige Verhalten von DelinquentInnen abzugehen hat-<br />

ten. Zugleich weitete sich ihr Tätigkeitsbereich von Begutachtungsaufgaben auf den Bereich des Mass-<br />

nahmenvollzugs aus, wurde doch ein Grossteil der sichernden Massnahmen in psychiatrischen Anstalten<br />

vollzogen. Für die betroffenen StraftäterInnen bedeutete dies, dass sie auch institutionell ins psychiatrische<br />

Bezugssystem versetzt wurden.<br />

Die sukzessive Ausweitung der Begutachtungs- <strong>und</strong> Massnahmenpraxis zeigt, wie sich im Kanton Bern<br />

zwischen 1890 <strong>und</strong> 1920 eine Praxis der Kriminalitätsbewältigung etablierte, die auf einer intensivierten ar-<br />

beitsteiligen Zusammenarbeit von Justiz-, Verwaltungsbehörden <strong>und</strong> Psychiatern beruhte. Kriminelles Verhalten wur-<br />

de dabei in wachsendem Ausmass medikalisiert <strong>und</strong> neue institutionelle Zugriffe auf StraftäterInnen aus-<br />

differenziert, die über das Legalitätsprinzip des bürgerlichen Strafrechts hinausgingen. Medizinisch-<br />

psychiatrische Behandlungs-, Versorgungs- <strong>und</strong> Verwahrungskonzepte wurden in eine auf Vergeltung <strong>und</strong><br />

Abschreckung fixierte Justizpraxis integriert, was zur Folge hatte, dass die Berner Psychiater nicht mehr<br />

allein als «Experten in Sachen Verantwortlichkeit», sondern zunehmend auch als «Berater in Sachen Be-<br />

strafung» (Michel Foucault) tätig waren. Erstaunlicherweise vollzog sich diese Entwicklung im Rahmen<br />

einer aus der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts stammenden Strafgesetzgebung – just jene Strafgesetzgebung, die<br />

den Strafrechtsreformern der Jahrh<strong>und</strong>ertwende ein Dorn im Auge war. Die Entwicklung im Kanton<br />

Bern lässt sich allerdings kaum als eine intentionale Vorwegnahme einer regulativen Kriminalpolitik be-<br />

trachten, wie sie den Strafrechtsreformern vorschwebte. Zum Tragen kamen in der Berner Justizpraxis<br />

vielmehr pragmatische Lernprozesse, die sich in Form einer intensivierten, aber nach wie vor von Fall zu Fall<br />

erfolgenden Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden <strong>und</strong> Psychiatern niederschlugen. Die Berner Jus-<br />

tizbehörden griffen letztlich nicht aus kriminalpolitischen, sondern aus den erwähnten pragmatischen<br />

Gründen in wachsendem Ausmass auf psychiatrische Begutachtungskompetenzen zurück. Als paradigma-<br />

tisch kann in diesem Zusammenhang die eingehend analysierte Ausweitung der Massnahmenpraxis auf<br />

vermindert Zurechnungsfähige von 1908 bezeichnet werden. In diesem Fall führten konkrete Vollzugs-<br />

probleme zu einer Modifikation des rechtlichen Dispositivs, welche freilich ganz im Sinne der Strafrechts-<br />

reformbewegung ausfiel. Die festzustellenden Medikalisierungstendenzen in der Justizpraxis lassen sich<br />

allerdings auch nicht losgelöst von der parallel stattfindenden Strafrechtsdebatte betrachten. Vielmehr<br />

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