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Psychiatrie und Strafjustiz

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eine grosse Zahl solcher DelinquentInnen sichernde Massnahmen, wodurch sich neue institutionelle<br />

Zugriffe abzeichneten, ohne dass die betroffenen StraftäterInnen über die Möglichkeit einer rechtlichen<br />

Anhörung verfügt hätten.<br />

Das Strafverfahren von 1850 schwieg sich über diese umstrittene Frage aus. Artikel 235 sah lediglich die<br />

Einstellung des Verfahrens vor, wenn «keine von dem Gesetz mit Strafe bedrohte Handlung oder [...]<br />

keine belastenden Taten gegen den Angeklagten» vorlagen. 634 1893 kam die Verfahrenseinstellung gegen<br />

Unzurechnungsfähige im Berner Regierungsrat zur Sprache. Anlass dazu dürfte der Fall eines Mörders<br />

gewesen sein, dessen Verfahren die Anklagekammer aufgr<strong>und</strong> eines Gutachtens der Waldau eingestellt<br />

hatte. Von Speyr sah sich daraufhin mit dem Vorwurf konfrontiert, er hätte «nach irrenärztlicher Manier<br />

wieder einmal einen Verbrecher seiner Strafe entzogen». 635 Erst acht Jahre nach diesem Vorfall legte der<br />

Polizeidirektor seinen Regierungskollegen einen Bericht vor «über das Ergebnis der im Schosse der Regie-<br />

rung aufgetauchten Frage» über die Kompetenz der Anklagekammer zur Einstellung von Strafverfahren,<br />

«wenn der Angeschuldigte laut Gutachten von Sachverständigen unzurechnungsfähig ist». Der Regie-<br />

rungsrat konnte sich jedoch nicht zu einem Beschluss durchringen. 636 In einem Bericht an den Grossen<br />

Rat verteidigte die Anklagekammer dagegen 1902 ihre Kompetenz, Verfahrenseinstellung verfügen zu<br />

dürfen: «Im Fall konstatierter Unzurechnungsfähigkeit des Angeschuldigten zur Zeit der Tat beansprucht<br />

auch die Anklagekammer für sich, wie auch für die unteren Untersuchungsbehörden (Untersuchungsrich-<br />

ter <strong>und</strong> Staatsanwalt) das Recht, die Untersuchung gegen diesen Angeschuldigten aufzuheben, da eine<br />

strafbare Handlung dann nicht vorliegt, wenn mangels Zurechnungsfähigkeit des Angeschuldigten die<br />

strafrechtliche Schuld desselben verneint werden muss.» 637 Auf der politischen Ebene war die Angelegen-<br />

heit damit vom Tisch. Die in der Erklärung der Anklagekammer angesprochene Praxis betraf die juris-<br />

tisch-psychiatrische Kompetenzverteilung zwar nicht direkt, dennoch trug sie dazu bei, dass psychiatrische<br />

Gutachten bereits auf der Ebene der Justizverwaltung – <strong>und</strong> nicht allein auf Gerichtsebene – Wirkung<br />

entfalten konnten. Entscheide der Justizverwaltung, die sich unmittelbar auf psychiatrische Expertenmei-<br />

nungen stützten, bekamen dadurch im Vergleich zu regulären Gerichtentscheide ein grösseres Gewicht.<br />

Wie in Kapitel 8 gezeigt wird, machte dies den Weg frei zu einer Verwahrungspraxis, die auf einer engen<br />

Kooperation von Untersuchungsbehörden <strong>und</strong> psychiatrischen Sachverständigen beruhte. Eine explizite<br />

Sanktion sollte die gängige Praxis der Verfahrenseinstellung durch die Untersuchungsbehörden aufgr<strong>und</strong><br />

psychiatrischer Gutachten allerdings erst im kantonalen Einführungsgesetz zum schweizerischen Strafge-<br />

setzbuch von 1940 erfahren. 638<br />

Die Bestimmungen über die Zurechnungsfähigkeit im Berner Strafgesetzbuch<br />

Der Rechtsbegriff der Zurechnungsfähigkeit markierte auch im Berner Strafrecht jene Stelle, wo die Be-<br />

zugssysteme <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> strukturell gekoppelt wurden. Die Definition der Bedingungen,<br />

unter denen transformative Systembeziehungen konkret erfolgen konnten, hatte nicht nur rechtspolitische<br />

Bedeutung, sondern strukturierte auch die Tätigkeit der psychiatrischen Sachverständigen. In Kapitel 2 ist<br />

bereits darauf hingewiesen worden, dass die Strafgesetzbücher des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die Zurechnungsfä-<br />

higkeit in der Regel durch die abstrakten psychologischen Kriterien der Strafreinsicht <strong>und</strong> der Willensfrei-<br />

634 StV 1850, Artikel 235.<br />

635 StAB A II, Band 1444, 473; Speyr, 1994b; Speyr, 1909, 13f. (Zitat).<br />

636 StAB A II, Band 1461, RRB 2928. Der entsprechende Bericht konnte trotz intensiver Nachforschungen in den Beständen der<br />

Polizeidirektion im Staatsarchiv Bern nicht aufgef<strong>und</strong>en werden.<br />

637 TBGR, 1903, 283. Anlass zu diesem Bericht war eine Motion von Grossrat Lohner, der die Anklagekammer aufforderte, ein<br />

Kreisschreiben zu erlassen, das die Untersuchungsbehörden zu einer genaueren Beachtung des Geisteszustands der Angeklagten<br />

<strong>und</strong> zu einer rascheren Anordnung eines psychiatrischen Gutachtens verpflichtet hätte.<br />

638 GDV, 1940, 200-227, Artikel 28; Waiblinger, 1942, 275. Zur heutigen (veränderten) Rechtspraxis: Hauser/Schweri, 1999, 397f.<br />

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