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Psychiatrie und Strafjustiz

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Die Angehörigen brachten die beobachteten Verhaltensänderungen von Friedrich H. in erster Linie mit<br />

Verstössen gegen bestimmte soziale Erwartungen in Verbindung. Friedrich H. verhielt sich in ihren Augen<br />

nicht so, wie es von einem gut ausgebildeten <strong>und</strong> soeben in die Berufswelt entlassenen jungen Mann zu<br />

erwarten gewesen wäre. Statt zielstrebig eine berufliche Laufbahn <strong>und</strong> Selbständigkeit ausser Haus anzu-<br />

streben, wechselte er häufig die Stellen <strong>und</strong> blieb schliesslich im Elternhaus, um unsinnig <strong>und</strong> unzweck-<br />

mässig erscheinende Pläne zu entwerfen. Mit der Zerstörung seiner Diplomarbeit vernichtete er gleichsam<br />

das symbolische Kapitel, das er sich durch Ausbildung <strong>und</strong> Examen erworben hatte. Auch im Hause<br />

selbst verstiess er gegen familiäre Erwartungen. Er zog sich von seinen Angehörigen zurück, missachtete<br />

gewohnte Tagesabläufe <strong>und</strong> stellte mit seinen «Wutanfällen» die häuslichen Autoritätsverhältnisse in Frage.<br />

Auch bei scheinbar unbedeutendsten Alltagshandlungen vermochte er sich nicht zu entscheiden. Für den<br />

Vater <strong>und</strong> Bruder war klar, dass solche Erwartungsbrüche Zeichen einer Geistesstörung sein mussten.<br />

Dies umso mehr, als der konsultierte Hausarzt die Familie auf die Notwendigkeit, Friedrich H. künftig in<br />

einer Irrenanstalt unterzubringen, aufmerksam gemacht hatte.<br />

Die psychiatrischen Sachverständigen sahen in der Entwicklung von Friedrich H. ein «Schulbeispiel einer<br />

Jugendverblödung», einer «Dementia praecox». Ihre Rekonstruktion des Krankheitsverlaufs im Gutachten<br />

deckte sich weitgehend mit den Wahrnehmungen der Angehörigen. Allerdings datierten die Psychiater den<br />

Beginn des Krankheitsprozesses bereits in die Kindheit von Friedrich H. zurück: «Obwohl wir nichts von<br />

einer erblichen Belastung des F. H. wissen, verrät sich die Anlage der heutigen Störung schon früh bei<br />

ihm. Allem nach ordentlich begabt, leistet er in der Schule doch nicht viel, weil ihm das Interesse fehlt [...].<br />

Mit der Entwicklungszeit tritt seine Eigenart deutlicher zu Tage. Er kann sich zu keinem Beruf entschlies-<br />

sen, so dass der Vater für ihn entscheiden muss. Er erzählt von Schwankungen, denen er seither unter-<br />

worfen ist. Er offenbart allerlei Sonderbarkeiten, sogar Schrullen. Es geht immerhin noch ordentlich, so<br />

lange er im Schutz des Hauses <strong>und</strong> der technischen Schule lebt. Wie er aber in die Praxis hinaustritt, be-<br />

ginnt er ernstlich zu versagen, vollends wie er, eigentümlich genug, in die Fremde geht. Schon in Berlin<br />

wechselt er mehrmals die Stelle, ohne dass wir einen genügenden Gr<strong>und</strong> kennen <strong>und</strong> später hält er es auch<br />

bald in Pratteln nicht mehr aus, obschon man ihn warnt, ins Ungewisse fortzugehen. Schliesslich tut er<br />

nichts Rechtes mehr, er sitzt daheim, brütet über unklaren Plänen, weigert sich eine einfache Unterschrift<br />

zu geben, um sich um eine Stelle bei der Bahn zu bewerben <strong>und</strong> wird zuletzt von seinem Vater gezwungen,<br />

eine Handlangerstelle bei einem Nachbarn anzutreten.» 895 Mit der Schilderung der schleichenden<br />

Veränderung des Verhaltens von Friedrich H. kamen die Sachverständigen einer lehrbuchmässigen Dar-<br />

stellung der «Dementia praecox» schliesslich beträchtlich nahe. 896<br />

Sachverständige <strong>und</strong> Angehörige waren sich im Fall von Friedrich H. einig, dass die beobachtete Verhal-<br />

tensänderungen Zeichen einer beginnenden Geistesstörung sein mussten. Dieser Einschätzung lag das<br />

normative Ideal einer sich harmonisch <strong>und</strong> zielgerichtet entfaltenden Persönlichkeit zugr<strong>und</strong>e, die sich den<br />

(geschlechtsspezifischen) Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, in diesem Fall dem männlichen<br />

Erwerbsleben, gewachsen zeigte. Einen ähnlichen Bruch in der persönlichen Entwicklung stellten zwei<br />

Psychiater aus Münsingen im Fall des Lumpensammlers Andreas F. fest, bei dem sie am Ende eine «Ver-<br />

rücktheit» diagnostizieren sollten. Andreas F. hatte im August 1898 ein Bauernhaus angezündet, wodurch<br />

895 UPD KG 9017, Psychiatrisches Gutachten über Friedrich H., 17. April 1920.<br />

896 Kraepelin, 1899 II, 149f.: «Die ersten Zeichen des herannahenden Leidens bilden in der Regel Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit,<br />

Schwindelgefühl <strong>und</strong> eine allmähliche Veränderung im Wesen des Kranken. Er wird still, in sich gekehrt, verstört, scheu, verschlossen,<br />

wortkarg, teilweise auch wohl reizbar <strong>und</strong> grob, störrisch, rechthaberisch oder gr<strong>und</strong>los heiter <strong>und</strong> ausgelassen. Die<br />

Arbeit geht ihm nicht mehr von der Hand; in seinen Obliegenheiten ist er nachlässig, gedankenlos, zerstreut, vergesslich, kümmert<br />

sich nicht darum, ob etwas fertig wird oder nicht, sondern sitzt untätig <strong>und</strong> brütend in den Ecken herum, starrt teilnahmslos vor<br />

sich hin, legt sich einige Tage ins Bett.»<br />

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