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Psychiatrie und Strafjustiz

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Sprechst<strong>und</strong>enpsychiaters demnach darin, die seltenen Fälle von wirklichen Geisteskrankheiten zu erken-<br />

nen <strong>und</strong> die übrigen Häftlinge soweit zu betreuen, dass sie nicht Anlass zu gravierenden Problemen gaben.<br />

Die Psychiater hatten aber auch insofern ein Interesse an der Sprechst<strong>und</strong>entätigkeit, als sich dadurch die<br />

Verlegungspraxis in psychiatrische Anstalten wirkungsvoll kontrollieren liess. Nur Geisteskranke im enge-<br />

ren Sinn sollten künftig in den Genuss der begehrten Verlegung in psychiatrische Anstalten kommen. Die<br />

Mehrheit der psychisch auffälligen Häftlinge, die an so genannten «Reaktionen» litten, konnten dagegen<br />

durch den Psychiater in der Strafanstalt ambulant betreut werden. In der Praxis musste dies zu einer ge-<br />

wissen Entlastung der Irrenanstalten führen, die ganz im Sinne der im Kanton Bern verfolgten teilweisen<br />

Demedikalisierung des Massnahmenvollzugs ausfiel. Wyrsch zeigte sich denn auch überzeugt, dass in<br />

Zukunft nebst den zurechnungsfähigen auch «die grösste Zahl der vermindert zurechnungsfähigen Täter»<br />

in den regulären <strong>und</strong> psychiatrisch betreuten Strafvollzug eingeordnet werden könnten. Komme es in<br />

einzelnen Fällen doch zu Schwierigkeiten, «so soll man nicht gleich die Einrichtungen anklagen, sondern<br />

dann hat eben der psychiatrische Dienst einzusetzen <strong>und</strong> soll beiden helfen, sowohl den Anstaltsdirekto-<br />

ren wie den Gefangenen». Auf jeden Fall mache der psychiatrische Dienst die Einrichtung von speziellen<br />

Annexen an Strafanstalten überflüssig. 1624 In den Augen des Psychiaters Wyrsch trug der neu eingerichtete<br />

psychiatrische Dienst damit wesentlich zur Funktionsfähigkeit des Berner Vollzugsmodells bei. Indem er<br />

die Toleranzschwelle des Strafvollzugs gegenüber renitenten <strong>und</strong> «abnormen» Insassen erhöhte, entlastete<br />

er zum einen die psychiatrischen Institutionen, in die solche Häftlinge sonst hätten eingewiesen werden<br />

müssen. Zum andern garantierte der psychiatrische Dienst eine kontrollierte Durchlässigkeit des Berner<br />

Vollzugssystems, die eine flexible Individualisierung des Straf- <strong>und</strong> Massnahmenvollzugs erlaubte. Die<br />

Sprechst<strong>und</strong>enpsychiater übernahmen dabei eine Selektionsfunktion, die eine Steuerung von Verlegungen<br />

<strong>und</strong> andern Vollzugsmassnahmen ermöglichte. In beiden Fällen reduzierte die pragmatische Integration<br />

psychiatrischer Behandlungsangebote in den Strafvollzug den Handlungsbedarf im Hinblick auf die Ausdifferenzierung<br />

spezieller forensisch-psychiatrischer Vollzugsinstitutionen. Die Einrichtung des psychiatri-<br />

schen Diensts erlaubte den Berner Behörden demnach, die Strafvollzugsreform, wie sie das schweizeri-<br />

sche Strafgesetzbuch vorschrieb, ohne grössere institutionelle Anpassungen in die Praxis umzusetzen.<br />

Wyrsch war sich ebenfalls über das forschungsstrategische Potenzial des psychiatrischen Diensts im Klaren: «Ebenso<br />

kann es sich auch später darum handeln, noch besondere systematische wissenschaftliche <strong>und</strong> kriminalisti-<br />

sche Untersuchungen mit dem psychiatrischen Dienst zu verbinden.» 1625 Mit der Einrichtung der psychiatrischen<br />

Sprechst<strong>und</strong>en eröffnete sich den Berner Psychiatern somit die Möglichkeit, ein gegenüber der<br />

Begutachtungspraxis deutlich grösseren Kreis von StraftäterInnen wissenschaftlich zu erfassen. Dadurch<br />

zeichneten sich Optionen ab, die in Richtung der von Dukor skizzierten Spezialisierung der forensischen<br />

<strong>Psychiatrie</strong> weisen konnten. Die Analyse der Sprechst<strong>und</strong>enberichte von Witzwil zeigt allerdings, dass die<br />

Berner Psychiater kaum gewillt waren, das forschungsstrategische Potenzial auszunutzen, welches ihnen<br />

die Sprechst<strong>und</strong>enpraxis bot. Von einer Standardisierung <strong>und</strong> Verdatung der Sprechst<strong>und</strong>enberichte sowie<br />

einer Klassifikation der Häftlinge, wie sie von der deutschen «Kriminalbiologie» der Zwischenkriegszeit<br />

angestrebt worden war, war im Untersuchungszeitraum denn auch kaum die Rede. 1626 Im Gegenteil, stär-<br />

ker als die in Kapitel 7 untersuchten psychiatrischen Gutachten waren Wyrschs Sprechst<strong>und</strong>enberichte in<br />

einer Alltagssprache gehalten, die nur selten auf psychopathologische Fachbegriffe rekurrierte <strong>und</strong> im<br />

Gegenzug nicht mit Stereotypen <strong>und</strong> Gemeinplätzen geizte. So hiess es zum Beispiel im Bericht über den<br />

1624 Wyrsch, 1947, 19.<br />

1625 Wyrsch, 1947, 19.<br />

1626 Vgl. zur Strategie der Standardisierung <strong>und</strong> Verdatung innerhalb der deutschen «Kriminalbiologie»: Viernstein, 1926. Auf die<br />

beschränkte Praktikabilität von Viernsteins Methode im bayerischen Strafvollzug verweist Wetzell, 2000, 136.<br />

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