13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Oberrichter sprach sich für das Beibehalten der bisherigen Praxis aus, indem er zu bedenken gab, dass die<br />

Auffassung des B<strong>und</strong>esrats eine «empfindliche Bresche in das ohnehin nicht lückenlose System der rich-<br />

terlich zu verhängenden sichernden Massnahmen» schlagen würde. Er forderte, dass die Verwahrung ge-<br />

mäss Artikel 14 des Strafgesetzbuchs auch ohne die Pflegebedürftigkeit des zu Verwahrenden <strong>und</strong> allein<br />

aufgr<strong>und</strong> dessen «Gefährlichkeit» zulässig sein sollte. Aufgr<strong>und</strong> der Erfahrungen der Praxis sei nicht ein-<br />

zusehen, weshalb in diesen Fällen die Verwahrung nicht in Arbeitsanstalten durchgeführt werden kön-<br />

ne. 1476 Unerwünschte Auswirkungen des B<strong>und</strong>esratsentscheids auf die Anstaltspsychiatrie befürchtete<br />

auch der Berner Psychiater Jakob Wyrsch (1892–1980): «Wenn die Praxis [...] nicht mehr angewandt wer-<br />

den könnte, bliebe tatsächlich nichts anderes übrig, als diese Täter in die Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalten aufzunehmen,<br />

auch wenn an ihnen nichts zu heilen <strong>und</strong> nichts zu pflegen ist. Sie müssten dort unter wohlwol-<br />

lender, aber straffer Leitung zur Arbeit, zur Ordnung, zur Stetigkeit <strong>und</strong> Selbstbeherrschung erzogen wer-<br />

den <strong>und</strong> dabei womöglich in einer eigens errichteten Abteilung mit besonders strenger Bewachung einge-<br />

sperrt gehalten werden.» 1477<br />

Ungeachtet dieser Diskussionen entschied das Berner Obergericht im August 1949, die bisherige Praxis<br />

vorerst nicht zu ändern <strong>und</strong> eine definitive Entscheidung des B<strong>und</strong>esgerichts abzuwarten. 1478 Bereits 1947<br />

hatte das B<strong>und</strong>esgericht freilich die b<strong>und</strong>esrätliche Position bekräftigt, wonach für die Anwendung von<br />

Artikel 14 das Kriterium der Heil- oder Pflegebedürftigkeit massgebend sei. 1479 1951 <strong>und</strong> erneut 1955<br />

revidierte das B<strong>und</strong>esgericht dann aber seine Rechtsprechung. Im Einvernehmen mit dem B<strong>und</strong>esrat stell-<br />

te es nun fest: «Art. 14 ist nur sinnvoll, wenn er die Verwahrung ohne Rücksicht auf die Behandlungs- <strong>und</strong><br />

Pflegebedürftigkeit des Täters einzig wegen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung<br />

gestattet.» Das B<strong>und</strong>esgericht fasste nun im Gegensatz zu früher den Gesetzesbergriff der «Heil- oder<br />

Pflegeanstalt» so weit, dass «darunter, Verwahrungsanstalten für Gewohnheitsverbrecher ausgenommen,<br />

nicht irgendwelche Anstalt verstanden werden könnte, die die Öffentlichkeit vor ihren Insassen, ohne<br />

diese einer Heilbehandlung zu unterziehen oder zu pflegen, in geeigneter Weise schützt.» 1480 Das oberste<br />

Gericht erteilte damit dem Berner Vollzugsmodell seinen Segen <strong>und</strong> besiegelte dadurch eine partielle De-<br />

medikalisierung des Massnahmenvollzugs. Eine Schranke setzte das B<strong>und</strong>esgericht indes nach wie vor. So<br />

sollten, wie es im Kanton Bern gang <strong>und</strong> gäbe war, nach Artikel 14 Verwahrte nicht in Verwahrungsan-<br />

stalten für «Gewohnheitsverbrecher» eingewiesen werden dürfen. 1481<br />

Fazit: Interessen <strong>und</strong> Handlungsspielräume bei der Umsetzung des neuen Massnahmenrechts<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Berner Behörden bei der Einführung des schweizerischen<br />

Strafgesetzbuchs den ihnen durch den Vollzugsföderalismus zukommenden Handlungsspielraum voll<br />

ausschöpften. Was die Verwahrung <strong>und</strong> Versorgung geistesgestörter DelinquentInnen anbelangte, kamen<br />

sie dabei den Interessen der Psychiater weitgehend entgegen. Das «flexible Berner Modell» gab den Ver-<br />

waltungsbehörden weitreichende Kompetenzen beim Vollzug sichernder Massnahmen <strong>und</strong> setzte dadurch<br />

eine bereits unter der kantonalen Strafrechtsgesetzgebung gängige Praxis fort. Wie der strittige Fall von<br />

Gottlieb K. zeigt, unterlief die Befugnis der Verwaltungsbehörden, über den Typ der Vollzugsanstalt <strong>und</strong><br />

Verlegungen zu entscheiden, allerdings insofern die Stossrichtung des neuen Strafrechts, als dieses si-<br />

chernde Massnahmen definitiv in den Kompetenzbereich der Justizbehörden verlagern wollte. Indirekt<br />

1476 Schmid, 1951.<br />

1477 Wyrsch, 1953, 47.<br />

1478 Schmid, 1951, 330.<br />

1479 BGE 73 IV, 151.<br />

1480 BGE 81 IV, 10, 12; Aebersold, 1972, 116f.; Stratenwerth, 1966, 359.<br />

1481 Selbst diese Einschränkung ging einzelnen Psychiater noch zu weit. Sie forderten eine völlige Freizügigkeit bei der Wahl der<br />

Verwahrungsanstalt nach Artikel 14 StGB; vgl. Binder, 1959, 56 f.<br />

360

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!